Die fatale Gouvernementalität

Wendy Brown belegt, wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Neoliberalismus als vorherrschendes wirtschaftliches und gesellschaftliches Modell gerät zunehmend in die Kritik. Das hat vor allem mit der sich global verstetigenden Krise des Kapitalismus seit 2007 zu tun. Derzeit gibt es eine regelrechte Sachbuchschwemme interessanter Titel zu diesem Thema. Dabei wird aber immer wieder konstatiert, dass erzwungene Offenbarungseide von Regierungen, nachhaltige Turbulenzen auf den Finanzmärkten, Banken, die in die Pleite rauschen und neue Protestbewegungen, wie es sie in den vergangenen Jahren von New York über Sao Paulo bis Istanbul gab, das neoliberale Regime nicht wirklich in Bedrängnis bringen. Im Gegenteil: das neoliberale Inwertsetzungsregime schreitet global voran und seine Regierungsrationalität strotzt vor Gesundheit. Eine überaus inspirierende Analyse des Neoliberalismus in politischer Hinsicht hat die 1955 geborene und im kalifornischen Berkeley lehrende Politologin Wendy Brown vorgelegt.

Die immer größer werdende Unzufriedenheit und die damit einhergehende Kritik am Neoliberalismus beziehen sich vor allem auf die ökonomische, weniger auf die politische Dimension. Viele Menschen im euroatlantischen Raum beklagen die größer werdenden sozialen Ungleichheiten, die Kommodifizierung immer neuer Lebensbereiche, die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und den Abbau staatlicher Leistungen. Gleichzeitig werden im globalen Süden noch die letzten Reste subsistenzwirtschaftlicher Autonomie geschleift, um alle Menschen in die Lohnarbeit zu zwingen und das kapitalistische Herrschaftsmodell global durchzusetzen.

Über den damit einhergehenden Abbau der Demokratie machen sich laut Wendy Brown viele Menschen aber deutlich weniger Sorgen. Vordergründig inszeniert sich die neoliberale Regierungslogik als demokratisch, hält die Begriffe der Meinungsfreiheit und Menschenrechte hoch, gleichzeitig findet aber ein radikaler Abbau demokratischer Grundrechte statt. Auch der Linken fehlt es nach ihrer Meinung an einem positiven Bezugspunkt zur Demokratie, die aber für die Entwicklung und Gestaltung einer gesellschaftlichen Zukunft jenseits kapitalistischer Profitlogik entscheidend sein kann.

Wendy Brown orientiert sich in ihrer Analyse und Kritik an Michel Foucault. Der versteht den Neoliberalismus im Gegensatz zu marxistischen Theoretikern (wie etwa David Harvey) nicht als eine Reaktion auf die Akkumulationskrise der 1970er Jahre, sondern als eine substanzielle Transformation des klassischen Liberalismus im 20. Jahrhundert, die ganz neue Regierungstechniken und ein neues Menschenbild hervorgebracht hat. Der »homo oeconomicus« steht im Zentrum der neoliberalen »Gouvernementalität«, die nach 1945 zuerst in der Bundesrepublik Deutschland Fuß fasste und sich schließlich auch in anderen Ländern Europas und den USA durchsetzte. Statt Menschenrechten ist der Marktimperativ entscheidend, der Staat regiert für den Markt. Wobei der Staat das ökonomische Spiel nicht leitet oder zügelt, sondern stets unterstützend wirkt. Das kann auf unterschiedliche Art geschehen, wie die Entstehungsgeschichte des Neoliberalismus zeigt. Während dieses System in Lateinamerika durch die faschistische Konterrevolution der Juntas gewaltsam implementiert wurde, um etwa Gewerkschaften zu verbieten und Außenhandelsbeschränkungen aufzubrechen, erlebten die westlichen Industrienationen subtilere Transformationen.

Letztlich bedeutet die Vorherrschaft des Marktes aber eine Entpolitisierung und damit auch eine Entdemokratisierung. Herbert Marcuse nannte diesen Vorgang die »Abriegelung des Politischen«. Es gibt keine Alternativen mehr zur ökonomischen Rationalität, die das ganze Denken durchdringt. Selbst das politische Feld wird zum Markt und soziale Beziehungen werden marktförmig gedacht. Nur wie kann eine andere Welt vorgestellt und ein Weg in eine emanzipatorische Zukunft beschritten werden? Denn letztlich passiert dies im Bereich des Politischen, der immer mehr verschwindet.

Die Marx'sche Analyse des Kapitalismus in der »Darstellung der Macht, der Imperative, der Brutalität und Fähigkeiten des Kapitalismus zur Weltgestaltung« ist laut Wendy Brown immer noch unübertroffen. Nur setzt diese Analyse Subjekte voraus, die sich nach Veränderung sehnen und eine politische Sprache besitzen, um sich zur Wehr zu setzen. Diese Fähigkeit löscht der Neoliberalismus effektiv. Kritik wird durch Konsens ersetzt, die Partizipation wird auf Kooperation reduziert. Die Politik als Streit, wie das der französische Philosoph Jacques Rancière nennt, gibt es nicht mehr. Um eine adäquate und zeitgemäße Kritik am Neoliberalismus und seinen Tendenzen einer Entdemokratisierung im Sinn einer schleichenden Konterrevolution zu formulieren, gilt es nach Meinung Browns deshalb, Marx’ Analyse mit Foucaults Verständnis der neoliberalen Vernunft zu verschweißen.

Wendy Browns spannende Studie, die neben viel gut erklärter Theorie auch ausschnittsweise ganz praktische Analysen von Barak Obamas und Angela Merkels Reden bietet, ist schon einmal ein Schritt in diese Richtung einer herrschaftskritisch marxistischen Herangehensweise.

Wendy Brown: Die schleichende Revolution - Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Suhrkamp, Berlin. 330 S., geb., 29,95 €.

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