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Schüchternheit als Makel

In der kapitalistischen Leistungsgesellschaft wird aus einer Charaktereigenschaft schnell eine Soziale Phobie

  • Henriette Palm
  • Lesedauer: 6 Min.
Soziale Phobien können überwunden werden, doch über die Art der Behandlung gibt es verschiedene Ansichten.

Die Studentin Katharina P., 28 Jahre alt, leidet seit Beginn ihres Studiums unter großer Angst, sobald sie vor anderen Kommilitonen oder in einer Prüfungssituation ein Referat halten soll. »Es ist mir nur anfangs mit viel Geschick gelungen, die Dozenten dazu zu bringen, die Seminararbeiten in schriftlicher Form zu akzeptieren. Jetzt muss ich aber meine mündliche Abschlussprüfung absolvieren. Diese schiebe ich seit zwei Jahren vor mir her. Ob ich mein Studium jemals beenden kann?«

In Fällen wie dem von Katharina spricht man von Sozialer Phobie. Die Ängste der Studentin sind lang andauernd, erzeugen starken Leidensdruck und drohen ihren erfolgreichen Studienabschluss zu verhindern. »Menschen, die andere Menschen oder das Umfeld außerhalb ihrer gewohnten vier Wände als Bedrohung erleben, haben in der Sozialen Phobie einen Fluchtort gefunden«, sagt der Lübecker Psychologe und Psychotherapeut Laszlo Pota. Von der Krankheit sind nach Schätzungen acht bis zwölf Prozent der Deutschen einmal im Leben betroffen. Erforscht wird die Symptomatik seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Als Krankheit anerkannt und in den diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen wurde sie jedoch erst 1980.

»Das hat die Behandlung der Krankheit erleichtert, ist zugleich aber von Nachteil für die Individualität. Statt die Einzigartigkeit des Einzelnen zuzulassen wird nach Handbuch und Leitlinien behandelt«, so Pota, »und auf ein allgemein verbindliches Ziel zugesteuert«. Für ihn ist es kein Zufall, dass dieses Ziel mit dem Idealbild der kapitalistischen Leistungsgesellschaft zusammengeht, in der eher Extrovertierte und Rücksichtslose eine Chance haben. Er sieht außerdem einen Zusammenhang zwischen sozialen Ängsten und dem Verlust von Bindungen in der Gesellschaft, deren Folgen er nicht zuletzt als Gründer der Hamburger Drogenhilfe-Einrichtung »Come In« immer wieder begegnet ist. »Längerfristig fehlender Halt, fehlende Sicherheit und Geborgenheit können krank machen. Dies dann auch als krankheitswertig anzuerkennen und zu therapieren ist richtig und keine Psychiatrisierung von Anderssein im Interesse steigender Einnahmen von Psychotherapeuten. Vielmehr ist die Gesellschaft gestört, wenn sie durchaus angebrachtes, verhältnismäßiges Verhalten diskreditiert und Egomanen und Narzissten huldigt.« Dem ließe sich entgegnen, dass es auch in dem ganz anderen sozialen Klima der DDR-Gesellschaft Menschen mit sozialen Ängsten gab; allerdings waren die absehbaren Konsequenzen dieser Ängste für die berufliche Entwicklung und soziale Stellung nicht so gravierend wie heute.

Auch Lydia Fehm vom Zentrum für Psychotherapie der Berliner Humboldt-Universität hat bei ihrer Arbeit viele Patienten mit starkem Leidensdruck erlebt. Ihre Ängste als Bagatelle abzutun mit dem Hinweis darauf, jemand sei halt ein bisschen scheu und schüchtern, verbiete sich. Während die Ursachen für das Entstehen der Krankheit von Fachleuten unterschiedlich beurteilt werden, legt die große Mehrheit Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Erlebens- und Gefühlszustand von schüchternen Menschen und den weit über deren Unsicherheit hinaus gehenden Ängsten.

International besteht eine weitgehende Übereinstimmung in der Beschreibung der sozialen Ängste. Ganz anders ist das bei der Schüchternheit. Was als schüchtern angesehen und wie es bewertet wird, unterscheidet sich deutlich zwischen Kulturkreisen und wurde auch in den zurückliegenden einhundert Jahren in Deutschland sehr unterschiedlich definiert. Im 19. und auch noch über Jahrzehnte im 20. Jahrhundert galt sie für Mädchen als Zeichen der Tugend und war für Männer immerhin bis Anfang des 20. Jahrhunderts tolerabel.

Dass sie inzwischen selbst für Frauen und Mädchen zum Makel geworden ist, hängt nach Lydia Fehms Meinung vor allem mit der veränderten Stellung von Frauen in der Gesellschaft zusammen, ihrer Gleichberechtigung, der steigenden Zahl berufstätiger Frauen, ihrer Rolle in der Politik und ganz allmählich auch in der Wirtschaft. »Das Idealbild von der zurückhaltenden, scheuen Ehefrau, die ihrem Mann folgt, ist der Erwartung von selbstbewusstem Auftreten in diversen Kontexten gewichen. Vor allem die Betroffenen selbst sehen es als Makel an, dieser Erwartung nicht zu entsprechen. Wenn man andere Menschen fragt, sind ihnen stille Kollegen oft sympathisch, oder sie registrieren deren Schüchternheit gar nicht in dem Maße, wie die Person es selbst tut.« Der Schriftsteller Martin Walser setzt in seinem Text »Über die Schüchternheit« einen anderen Akzent und schreibt: »Der Schüchterne, der an seiner eigenen Unzulänglichkeit leidet, passt nicht in diese Zeit der ›globalen Selbstentblößung‹«.

Vielleicht ist ja deshalb so etwas wie ein Markt entstanden, der die Grenze zwischen der Persönlichkeitseigenschaft Schüchternheit und der Krankheit Soziale Phobie verschwimmen lässt. Auch dem Schüchternen wird eingeredet, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Diverse Ratgeber - von »Zittern, bibbern, schüchtern sein«, »Schüchternheit kreativ bewältigen« über »Raus aus der Selbstblockade« bis »Schüchtern war gestern« - suggerieren Schüchternen, sie müssten endlich etwas gegen ihre Wesensart tun. Zu beziffern, wie viele unter diesem Druck zu Außenseitern werden, sich immer mehr selbst isolieren und umgekehrt auch ausgeschlossen werden, wie viele zu legalen oder illegalen Substanzen greifen - das wäre Spekulation. Laszlo Pota ist sich sicher, dass Angebot Nachfrage schafft und diese auf dem Schlachtfeld der Konkurrenz um den besseren Studienabschluss, den höher bezahlten Manager-Job, die nächsthöhere Position in der politischen Hierarchie, den besten Sendeplatz im TV oder den Sieg im Sport auch mit Medikamenten, Doping- oder Aufputschmitteln letztlich befriedigt wird.

Ob das Internet ein Ausweg für Menschen mit einer Sozialen Phobie sein kann, wird gerade erforscht. Wo ließen sich soziale Ängste besser verbergen als in der Anonymität sozialer Medien? Niemand sieht einen erröten, schwitzen, zittern, niemand schaut spöttisch auf das eigene Outfit oder macht sich über die vermeintlich zu große Nase lustig. Für Fehm sind soziale Medien Chance und Risiko zugleich. »Das elektronische Kennenlernen löst in der Regel weniger Angst aus, weil einen niemand anschaut und man bei der Konversation nicht spontan antworten muss. Das kann eine Chance sein, nicht ganz zu vereinsamen vor Angst; eine Chance, wenigstens ein paar Kontakte zu pflegen, ohne den Schutz der eigenen Wohnung aufgeben zu müssen. Problematisch wird es, wenn die Betroffenen dies nicht als Stufe in die echte Welt begreifen, sondern in den sozialen Medien verharren.«

Auch ein Bericht dreier US-amerikanischer Forscher aus dem vergangenen Jahr deutet darauf hin, dass Menschen mit einer Sozialen Phobie bei interaktiver Kommunikation in sozialen Medien durchaus profitieren können. Die Autoren betonen, dass ihre Untersuchungen keine kausalen Zusammenhänge bewiesen, sondern lediglich Korrelationen. Das Internet - so ihre Hypothese - könne zur Vorstufe für die persönliche Begegnung werden. User würden den für sie ohne das Netz schwierigen interaktiven Austausch genießen und irgendwann den Schritt in die reale Welt wagen. Anders dagegen - so das Ergebnis der experimentellen Untersuchung - wirkten Facebook und vergleichbare Medien, wenn sie von Menschen mit Sozialen Phobien nur passiv genutzt werden. Die ausschließlich passive Nutzung mache die Phobiker anscheinend noch ängstlicher und grüblerischer; sie zögen sich noch mehr zurück. Wie stark sich die Symptome - Ängste und häufiges Grübeln - verschlimmern und in eine Depression münden, hängt nach jetzigem Kenntnisstand auch von der Dauer und Häufigkeit des passiven Verweilens in sozialen Netzen ab. Weitere Forschungen sind nach Aussagen der Autoren jedoch dringend geboten, um Handlungsempfehlungen zu rechtfertigen und verbesserte Therapien bei Sozialen Phobien zu ermöglichen.

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