Mitten im romantischen Exzess

Zwei Psychiater, die auch promovierte Philosophen sind, diskutieren über das Wesen der Liebe

Das Wagnis, etwas begreifen zu wollen, was jede und gar keine Form annehmen kann, ist zum Scheitern verurteilt. Dabei zu sein, wenn sich zwei studierte Philosophen und Psychologen Gedanken über die Liebe machen und versuchen, hermeneutisch diesen Gefühlspudding an die Wand zu nageln, ist deshalb ein besonderes Vergnügen. Sie probieren es mit Beckett (Godot), mit Lars von Trier (Melancholia) und Richard III (Einsamkeit). Aber die Liebe bleibt etwas Klares, gleichzeitig Nebulöses, Heilendes und aber auch Zerstörerisches, alles irgendwie, nur ohne Kontur.


Michael Roes/Hinderk Emrich: Widersprüchliche Anmerkungen zur Vergeblichkeit der Liebe.
Alibri. 101 S., geb., 9 €.


Der 56-jährige Psychologe und Germanist Michael Roes, Skeptiker und Individualist und sein 17 Jahre älterer Duellant Hinderk Emrich, Psychiater, Optimist und Romantiker, erforschen per Briefaustausch das Wesen der Liebe.

Am Kern der Frage bohrt wie so oft Hegel herum: Irgendwo da draußen gibt es das andere meiner selbst in mir. In Bezug auf ebenjenen Hegel macht Emrich sein Credo fest: Die erfüllende Liebe, sie ist möglich. Was man in dem anderen findet, komplettiert das eigene Ich. Auf der anderen Seite winkt Hinderk schon da ab, und so sind die beiden schnell bei der Dichotomie frei/unfrei.

Beides zugleich, geliebt zu werden und zu bleiben, wie man ist, ist unmöglich wie Roes schreibt, der in dem anregenden Gedanken-Ping-Pong den Part des Nihilisten spielt und der Debatte damit immer wieder neue Impulse gibt. Während Emrich der Auffassung ist, dass Liebe die Chance bietet, über sich hinauszuwachsen, derjenige der liebt also das größte aller menschlichen Abenteuer eingeht, dem man sich stellen kann, ist Roes überzeugt, dass der Lohn für den Verzicht auf dieses entindividualisierte Gefühlschaos eine tiefe innere Sicherheit ist.

Liebe ist, so ist Roes sich sicher, ein romantischer Exzess, der die Seele jedes Mal dort erneut aufreißt, wo man doch alles gerade so gut mit der eigenen In-Sich-Vertrautheit abgedichtet hatte. Auf die Spitze treibt er es, in dem er sich auf den Film »Restless« von Gus van Sant von 2011 bezieht und behauptet, die Liebe der Protagonisten sei die einzig mögliche. Einer, im Wissen darüber, dass der andere bald sterben wird, kann nur deshalb ehrlich und wirklich lieben, weil ihm das kurze Verfallsdatum dieser Beziehung jede Angst nimmt, sich selbst darin zu verlieren.

Spätestens hier muss Emrichs Gegenrede harte Geschütze auffahren, dem Autonomieapologetiker noch irgendetwas halbwegs Hoffnungsvolles entgegenzusetzen. Er versucht es mit der Unterscheidung der Liebe als System (um auf Roes zuzugehen) und der Liebe als Gefühl (um ihn zu erwärmen). Als Romantiker ist Emrich hier zunächst auf verlorenem Posten, kann der Individualist doch mit Begriffen wie Sinnlichkeit, Vertrauen und Innigkeit wenig anfangen, wenn sie für die Ewigkeit gedacht sind. Dabei sieht Emrich die eigene Person durch Liebe nicht eingeschränkt, sondern wachsend. Das Wagnis, sich auf jemanden völlig fremden einzulassen, dessen Lebenserfahrung an seiner eigenen reiben zu können, das sei das Schöne, Echte, Wahre an der Liebe, nicht die Teilamputation des Ich.

Was Roes an der Liebe schätzt und als einzig Sinnvolles gelten lässt, ist das, was ihr Scheitern beim Menschen freisetzt. Nicht das, was Emrich als Unschärfe in einer Beziehung als das Reizvolle beschreibt, ist für ihn die Herausforderung, sondern das »Scheitern definiert die Ränder und Grenzen meines Selbst«, schreibt Roes.

Schon im Titel des Austauschs wird deutlich, die Widersprüchlichkeit ist das, was die Liebe heute definiert. Jenseits dessen, was Romane des 19. Jahrhunderts und die Minnegesänge eines Walter von der Vogelweide einmal vorgaben. Nichts ist mehr eindeutig, für immer, festgelegt.

Die aufopferungsvolle Liebe, die vor allem in heterosexuellen Partnerschaften von der weiblichen Seite erwartet wurde, hat sich aufgelöst in einer Zeit der 1000 Möglichkeiten. Nicht gesprochen ist von der Liebe, die nach wie vor durch erzwungene Ehen das Individuum der Sitte unterordnet.

Wer heute vorschreibt, einengt, aufdrückt, vergöttert, wird verlassen. Das Ich und die/der andere können parallel existieren, statt der Liebe wird die Beliebigkeit und das Ich zum Exzess. Die Begierde, die Eroberung, ein Loslassen und wieder Erobern, ist für beide Geschlechter zum Rausch und Fluch geworden. Das auszuhalten, ist wohl die größte Herausforderung der Liebe im 21. Jahrhundert.

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