Ein Jahr wird fünfzig - und es wird gratuliert

Frank Schäfer erinnert an 1966 und die Bewusstseinserweiterung der Welt

  • Peter L. Zweig
  • Lesedauer: 3 Min.

In der Geschichte der westlichen Popkultur spielte das Jahr 1966 bisher keine große Rolle. Der berühmte Summer of Love fand 1967 statt, und 1968 war das Jahr der 68er, na klar, aber 1966? Frank Schäfer, natürlich vom Jahrgang 1966, erzählt in seinem Großessay von jenem Jahr, erinnert an Ereignisse aus Musik, Kunst, Alltagsleben und Politik in vornehmlich Westeuropa und Nordamerika und verdichtet das Ganze so, dass man ihm schließlich zustimmt: 1966 war »das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte«, so der Untertitel des Buches.


Frank Schäfer: 1966. Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte.
Residenz Verlag. 204 S., geb. 19,90 €.


Philosophen würden hier auch ein Beispiel dafür finden, wie Quantität in eine neue Qualität umschlägt, denn was sich in den Jahren zuvor an Frust bei den Jungen und jung Gebliebenen angestaut hatte, führte zu einer Veränderung, wenngleich zunächst nur im Bewusstsein der Rebellierenden.

Die beginnende Jugendrevolte beschränkte sich diesmal nicht auf Tanzstile und Kleidermoden wie in den 1950er Jahren, sie wollte mehr, sie wollte eine ganze Gegenkultur aufbauen, auch wenn dieses den Protagonisten oft noch gar nicht bewusst war. Neues schaffen, Großes und noch Größeres erreichen, Grenzen überwinden, das wird im Jahr 1966 zum neuen Trend. Schäfer erwähnt das zweite Album von The Who, das erstmals einen 9-Minuten-Track enthält, und die neuen Scheiben der Beatles und Beach Boys - damit wird das LP-Format zum eigenständigen Medium, hört auf, eine Sammlung von Singles und B-Seiten zu sein. Die Klangexperimente der Beatles im Studio gehen so weit, dass die Band nicht mehr in der Lage ist, ihre Musik auf der Bühne zu reproduzieren.

Die Jugendkultur überwindet die Grenzen von Ländern und Kontinenten; der in den USA kaum beachtete Afroamerikaner Jimi Hendrix geht nach England, wird zum Star und kehrt umjubelt in seine Heimat zurück, wo er als Schwarzer vor einem vorwiegend weißen Publikum spielt. Überhaupt spielt die Hautfarbe in der Popmusik keine Rolle mehr; die Jugend will ihre Musik hören, egal wer sie spielt. Die ausufernden Songs werden zu musikalischen Trips, mit oder ohne LSD.

Schäfer, studierter Amerikanist, schreibt für Musikmagazine, Tageszeitungen und ein Satiremagazin. Davon profitiert sein Buch; man bewundert, wie er das Terrain erweitert. So verbindet sich der Aufstieg der Rockmusik zur Kunstform mit dem Aufkommen des Neuen Deutschen Films, einer beinahe eingetretenen atomaren Katastrophe und dem berühmten Wembley-Tor (war er drin?).

Das ist erhellend und auf eine intellektuelle Weise unterhaltsam. Man sollte dieses Buch nicht nur lesen, weil man es zum 50. Geburtstag geschenkt bekommen hat, und man sollte es auch lesen, wenn man aus den neuen Bundesländern stammt und Ulbrichts Yeah-Yeah-Yeah-Verbot ignorierte. Frank Schäfer listet Monat für Monat die Toptitel der Hitparaden in den USA, der Bundesrepublik und Großbritannien auf. Hier seien die DDR-Spitzenschlager ergänzt, es waren Günter Geißlers »Das schönste Mädchen der Welt«, Karin Prohaskas »Jung gefreit hat nie gereut« und Britt Kerstens »Immer wenn du lachst«.

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