Als die Russen die Schweizer retteten

Warum vor 200 Jahren der Frühling ausfiel und der Sommer ein Winter war

  • Till Bastian
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass der Winter 2015/16 kein richtiger war, dürfte noch in Erinnerung sein - sei es wegen Ärgernissen wie einen durch Schneemangel entfallenen Skiurlaub oder die Überraschung blühender Primeln im Februar.

Vor 200 Jahren hatten die Menschen in Deutschland, der Schweiz und Österreich andere Sorgen. Im kalten, schneereichen Winter war das neue Jahr allgemein freudig begrüßt worden - endlich, nach der Vertreibung Napoleons, herrschte Frieden in Europa. Der Januar 1816 war auch eher mild, aber am 10. Februar fror die Weser bei Bremen zu, die Frostperiode dauerte bis in den April hinein. Der Frühling fiel weitestgehend aus, und alsbald begann »der Sommer, der ein Winter war«. In einem Bericht aus Gunzenhausen in Mittelfranken heißt es: »Im April war es so kalt wie im Dezember, Regen und Kälte wechselten immer ab - alles hatte Angst und Sorgen um die Ernte.« In Bozen waren erst Ende Mai die ersten Knospen an den Bäumen zu sehen - doch am 7. Juni fiel Schnee. In der Schweiz schneite es am 2. und am 30. Juli bis in die Täler hinunter. Flüsse traten über die Ufer (so etwa Rhein und Rhone), Wege waren unpassierbar, überall gab es Erdrutsche, und in Bamberg stürzten Mitte Juni nach heftigen Regengüssen mehrere Häuser ein, was 15 Todesopfer forderte.

Wegen der schlechten Ernten stiegen die Getreidepreise und erreichten im Folgejahr 1817 einen Höchststand: In Baden, Württemberg, Bayern, dem Elsass, der Deutschschweiz und in Vorarlberg stiegen sie um das Zweieinhalb- bis Dreifache zu 1815. Es folgten heftige Hungersnöte und eine Welle von Auswanderung. Das beliebteste Ziel der Emigranten war Russland, dessen Zar Alexander I. hunderttausend Rubel zur Linderung des größten Elends in der Ostschweiz spendete, wo ein Zeitgenosse beobachtete, dass »die Kinder oft im Gras geweidet« hätten wie die Schafe. Im Königreich Württemberg musste 1816 das bisher geltende Auswanderungsverbot aufgehoben werden; von 1816 bis 1818 verließen 17 383 Menschen das Land, das Sechsfache der beiden Vorjahre: 9233 nach Russland, 6009 in die USA. Im Golf von Bengalen begünstigten die Klimaschwankungen den Ausbruch einer Choleraepidemie, die 1828 Persien, 1829 Russland und 1830/31 Westeuropa erreichte, wo ihr neben vielen Tausend anderen auch der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel zum Opfer fiel.

Was war die Ursache von Klimaanomalie und Menschenelend? Sie lag fernab von jenen Gegenden, in denen die Menschen Hunger litten: Auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien war am 5. April 1815 der Vulkan Tambora ausgebrochen. Bei den bis zum 15. April andauernden Explosionen wurden etwa 150 Kubikkilometer Gestein in die Atmosphäre geschleudert - der ursprünglich über 4000 Meter hohe Berg schrumpfte auf 2850 Meter Höhe ab; es entstand ein Krater (Calddera) von sechs Kilometern Durchmesser. Der Staub, der sich in der Erdatmosphäre rasch verteilte, legte sich wie ein Schleier um den gesamten Erdball, hemmte den Durchtritt des Sonnenlichtes und ließ die Temperaturen sinken - mit den erwähnten Folgen. Es handelte sich exakt um jenes Szenario, vor dem Klimatologen am Ende des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort »nuclear winter« immer wieder gewarnt haben.

Auch in der Kulturgeschichte hat das »Jahr ohne Sommer« Spuren hinterlassen: Die grandiosen Sonnenuntergänge, die William Turner in Großbritannien und Caspar David Friedrich in Deutschland gemalt haben, »verdanken« ihre Farbenpracht wohl den Staubpartikeln in der Atmosphäre, und am Genfer See begann Mary Shelley im Juli 1816, da der Dauerregen an anderen Unternehmungen hinderte, ihren Roman »Frankenstein«. - Über die Katastrophenjahre 1816/17 liegen jetzt zwei lesenswerte Bücher vor: »Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte« von Wolfgang Behringer (C.H. Beck) und »Vulkanwinter 1816. Die Welt im Schatten des Tambora« von Gillen d’Arcy Wood (Theiss).

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