»Bei uns gibt es keine Zeit«

Alina Bronsky über eine alte Frau aus einem Dorf bei Tschernobyl

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass jemand lieber im Gebiet Tschernobyl leben will als in Deutschland, sollen wir das wirklich glauben?

Alina Bronsky, 1978 geboren in Jekaterinburg, jedenfalls lebt in Berlin, nachdem sie mit ihren Eltern Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland kam. Inzwischen ist sie wohl hier zu Hause, verheiratet, hat vier Kinder. Der Name auf dem Buchumschlag ist ein Pseudonym. Sie trennt ihr Privatleben von ihrem Schriftsteller-Sein. Schon ihr erstes Buch, »Scherbenpark« (2008), schrieb sie auf Deutsch. Es folgten fünf weitere. Sie hat Erfolg.

Baba Dunja, die Ich-Erzählerin aus Alina Bronskys neuem Roman, lehnt es also ab, nach ihrer Begnadigung aus einem russischen Gefängnis zu ihrer Tochter nach Deutschland zu ziehen. Die ist Chirurgin bei der Bundeswehr, eine schöne Frau, aber offenbar nicht glücklich. Sie war nach Russland gereist, hatte im Haftkrankenhaus am Bett der Mutter gesessen, hatte sie unbedingt da heraus und zu sich holen wollen. Das Telefon klingelte. Die alte Frau nahm ab. »Ämnesti sei dran. Aber ich kenne diese Frau nicht.«

Obwohl schon ein Flugticket gebucht war, will Dunja zurück in ihr Dorf. Ihr Rechtsanwalt bringt sie mit seinem Privat-Pkw bis zur stillgelegten Pralinenfabrik, weiter wagt er sich nicht ins verstrahlte Gebiet. Von dort aus läuft sie über drei Stunden - »Ich humpele seit meinem Schlaganfall, daher tut mir beim Laufen alles weh« - nach Tschernowo in der »Todeszone«, wo nur noch ganz wenige alte Menschen leben. Sie setzt das Kopfkissen ab, in das sie ihre Sachen gepackt hat, öffnet die Tür zu ihrer Hütte - »und bin wieder zu Hause«. Das sind die letzten Worte des Romans.

Wie es danach weitergeht? Sie wird bei ihren Nachbarn vorbeischauen, ihren Garten einigermaßen in Ordnung bringen - und Englisch lernen. Das hat sie sich vorgenommen, damit sie den Brief ihrer Enkelin Laura lesen kann. Laura, das erraten wir bald, ist »Baba Dunjas letzte Liebe«. Sie ist von zu Hause abgehauen, aber einfach zur Oma fahren, kann sie natürlich nicht. Von Geld- und Visaproblemen abgesehen, alles im Dorf Tschernowo ist verstrahlt, auch Baba Dunja selbst. Deshalb ist es ja zu einem Mord gekommen, weil ein kleines Mädchen gerettet werden musste. Aber Baba Dunja hat die Axt nicht geschwungen, hat sich unschuldig zur Tat bekannt …

Wenn man das so erzählt, ist ein dramatisch-düsterer Roman zu vermuten. Erstaunlich ist, wie die Autorin aus diesem ernsten Stoff etwas so freundlich Poetisches, mitunter geradezu Witziges hat machen können. Das gelingt ihr nicht mittels Ironie, sondern dadurch, dass sie sich ganz und gar in ihre Ich-Erzählerin hineinversetzt. »Ich bin keine zweiundachtzig mehr«, sagt Großmutter Dunja mitunter. Wie alt wird sie sein? Wir staunen von Seite zu Seite über die Tatkraft und die Herzensgüte dieser Frau, die früher mal medizinische Hilfsschwester war und an ihrem Stück Heimaterde so hing, dass sie trotz aller Warnungen schon kurz nach dem Reaktorunglück dorthin zurückkehrte. Wir lesen, wie sie ihr Leben fristet. Ach was, fristet, sie genießt es, dieses ganz einfache Dasein ohne Fernsehen und Telefon. Was sie braucht, baut sie im Garten an. Schwierig ist es, in die Stadt zu kommen. Noch surrt das Stromaggregat.

Manchmal fragt man sich, ob da etwas beschönigt würde. Aber die alte Frau hat eine andere Wahrnehmung. Sie ist gelassen und auf ihre Weise klug. Ihr toter Mann ist bei ihr, viel freundlicher als er zu Lebzeiten war. Auch den Geist jenes Hahns kann sie sehen, aus dem sie für sich und die Nachbarin eine Suppe kochte. Die Vögel singen lauter in Tschernowo - ein Biologe weiß zu sagen, warum - und die Tiere sind, obwohl mitunter verkrüppelt geboren, nicht so verrückt wie die in der Stadt.

Das einfache dörfliche Leben gegen das in der Stadt zu setzen, das ist vor Alina Bronskys Geburt schon Thema der sogenannten Dorfprosa in der sowjetischen Literatur gewesen. Die berühmte Novelle »Sind wir ja gewohnt« von Wassili Below, 1978 in der DDR auf Deutsch erschienen, wird sie womöglich zu Hause noch im Original gelesen haben. Der Titel könnte auch auf Baba Dunjas Leben passen, aber in ihrer Duldsamkeit ist kaum Anklage, höchstens, wenn man sie von sich aus hineininterpretieren wollte. Es ist eine andere Lebensweise, mit der unsereins nicht zurechtkommen würde, die aber der Alltag von Millionen ist. Auch ist die alte Frau eine von vielen, die trotz der Gefahr in der Gegend um Tschernobyl siedeln. »Was ich in Tschernowo niemals gegen fließend Wasser und eine Telefonleitung eintauschen würde, ist die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine.« Und es gibt auch nicht jene Angst, die tief in anderen Menschen sitzt.

Eine Art Nostalgie nach einem einfachen Leben selbst unter schwersten Bedingungen? Selbst wenn sich der Roman eingängig liest, hat er’s in sich. Andere sind an der Strahlung gestorben. Kann eine intakte Seele den Körper schützen? »Hauptsache es gibt keinen Krieg. Aber dafür wird unser Präsident schon sorgen. Manchmal fühle ich mich dennoch unwohl bei dem Gedanken, dass Irina inzwischen einen deutschen Pass hat.«

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 154 S., geb., 16 €. Hörbuch, gelesen von Sophie Rois. Tacheles. 4 CDs, 19,99 €.

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