Geh ins Offene, jetzt bist du frei

Katrin Pieper erzählt davon, wie es vielen geht, die sich im Alter neu erfinden müssen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Jahrzehnte lang Hast auf Künftiges hin und dann noch einmal ganz neu beginnen? Am ersten Tag ihres »erfüllten Lebensabends« legt sich Johanna Göte aus dem Roman von Katrin Pieper erst einmal ins Bett.

Es kann auch schon früher geschehen. Geliebte Menschen sterben, eine Krankheit schlägt zu, eine Beziehung zerbricht, die Kinder gehen aus dem Haus, der Betrieb macht Pleite ... Wie viele freuen sich dagegen auf die Rente. Nicht, dass Johanna Göte aus dem Roman von Katrin Pieper mit ihrer Büroarbeit verwachsen wäre, ihren Chef mochte sie schon gar nicht. Aber wie sie am ersten Morgen »des erfüllten Lebensabends« erwacht, lässt an das Gemälde »Die Ausgezeichnete« von Wolfgang Mattheuer denken: Der große Blumenstrauß auf dem Tisch wirkt, als sei er ihr hinterhergeworfen worden. Sie war ausgemustert. Wer als Arbeitskraft so leicht ersetzbar ist, wurde der vorher wirklich als Mensch gebraucht?

Vielleicht haben solche Gedanken auch etwas mit DDR-Sozialisation zu tun. Arbeit nicht bloß als Job zum Geldverdienen, sondern als Lebenssinn - das funktionierte schon damals nicht für jeden, und nicht immer machten freundliche Kollegen das wett. Aber den Arbeitsplatz nicht als fremd, sondern als etwas eigenes zu betrachten, war durchaus im gesellschaftlichen Sinne. Über die Kehrseite solcher Erfüllung wurde kaum nachgedacht.

Es ist ja auch deshalb so schwierig für Johanna Göte und ihresgleichen, weil es neben der Arbeit vorher wenig Zeit und Raum für sie selbst gegeben hatte. Für Johanna ist es zudem ein »Leben nach Paul«. Wobei der Alltag mit dem Ehemann durchaus nicht immer einfach gewesen war, wie im Roman immer mal wieder zum Ausdruck kommt. Aber sie vermisst ihn und braucht es, neben seinem Grab auf der Bank zu sitzen.

Nicht von ungefähr gibt es zu diesem Thema nicht allzu viele Bücher in der Gegenwartsliteratur, und die es gibt, werden nicht so bekannt. »Der alte König in seinem Exil« von Arno Geiger war eine Ausnahme. Romane über Jüngere werden lieber verlegt und womöglich auch gelesen, auch wenn darin durchaus von Problematischem die Rede ist. Vom Altern möchte man, so lange es geht, lieber nichts wissen. Bücher darüber treffen auf berechtigte Scheu vor Rührseligkeit und Klage: In den Spiegel der eigenen Ängste zu blicken, das schwächt, das belastet. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen, und wenn es für Johanna am Ende des Romans sogar noch einmal aufwärts geht, ist das Abwärts bei der Lektüre doch immer mitgedacht.

Nein, falsch, würde die Autorin vielleicht einwenden. Was bringt dir solches Sinnieren? Wohl wahr: Die Hast auf Künftiges hin gehört auch zu den Verkrümmungen des Arbeitslebens. Dabei geschieht Leben doch immer nur im Augenblick. Katrin Pieper verfällt weder in einen Ton der Klage noch in eine aufgesetzte Heiterkeit des Verdrängens, und Belehrungen gibt es von ihr schon gar nicht. Sie bleibt in Johannas widersprüchlicher Lebenswirklichkeit - allerdings als eine Schreiberin, die, so scheint es, selber nicht mehr drin steckt, sondern darüber hinaus ist, nicht mehr hilflos rudernd in diesem mal brodelnden, dann wieder lähmend trägen Gewässer, sondern in einem Lebensstrom, der auf ermutigende Weise trägt. Immerhin hat Johanna eine Freundin. »›Es ist, wie es ist‹, sagt Evi, ›und es wird nicht besser, aber man kann sich das Leben auch in unserem Alter wenigstens noch anders vorstellen.‹ Sie blieb nachdenklich vor einem Plakat stehen. Ein weißhaariges, sehr schlankes Paar blickte munter und faltenfrei auf sie herunter. ›Meinen die wirklich uns?‹«

Da hat man sofort diese Reklamebilder vor Augen, mit denen oft für Seniorensport oder Kuraufenthalte geworben wird. Verlogen! Aber taugt denn das Wirkliche als Bild für diesen Zweck? Wäre es besser, gekrümmte Gestalten mit Krücken oder Rollatoren zu zeigen, denen solche Kuren gut tun würden?

Die Jungen sollen als Arbeitskräfte flexibel verfügbar sein und das Verdiente auch ausgeben. Die Älteren sind immerhin (noch) eine kaufkräftige Zielgruppe. Und wenn sie nicht mehr reisen oder anders konsumieren können, kostet die Pflege. Die Jungen mögen sich in der Vorstellung, gebraucht zu werden, über ihre Lage hinwegtäuschen, die Alten nicht. Ihre Erfahrung ist wenig wert in einer Gesellschaft, die ständiger Innovation bedarf. Wer alt ist, wird zu Seinesgleichen sortiert und würde doch lieber von den Jüngeren noch gefragt sein, gehört werden. Eine Diskriminierung, die nicht wegzureden ist. An ihrem ersten Rententag fällt Johanna nichts anderes ein, als sich einfach ins Bett zu legen. Die Zeit verschlafen? Ein Versagen? Oder doch irgendwie verwegen?

Erst Mal raus aus der gewohnten Spur. Schwierig genug. Manches kommt einem sinnlos vor. Wenn wir als Kinder selbstvergessen spielen konnten, wurde uns derlei »Zeitverschwendung« doch später gründlich ausgetrieben. Sich auf Ungeplantes einlassen, einen Schritt nach dem anderen tun. Querfeldein nach dem Motto: Einen Versuch ist es wert. - Katrin Pieper beschreibt, wie Johanna zu sich selber finden muss. Die Kinder sind ihr dabei kaum behilflich, denn sie leben auch selbstbestimmt, haben wenig Zeit für sie und lassen sich nicht vereinnahmen.

Aber da es ein Roman ist, der auch gefallen soll, hat die Autorin noch ein paar glückliche Fügungen und Wendungen parat. Da gibt es eben doch wieder Interesse an Johannas beruflichen Erfahrungen und auch an ihr als Frau. »So viel Leben plötzlich«, wundert sich Johanna. Es ist wirklich so: Wer offen ist, auf andere zuzugehen, kann Unerwartetes geschehen lassen.

Diesbezüglich sind Johannas Kinder eben doch nicht klüger als ihre Mutter. Ausreden wollen sie ihr, dass sie in einem Kindergarten aushilft. Dabei fühlt sie sich wohl dabei. Von ihrer späteren Teilzeitarbeit als Buchhalterin in einer Fahrschule mag sie gar nicht erst reden. Was wissen die Kinder denn von ihren Bedürfnissen? Auch was sie belastet, ahnen sie nicht. Zum Beispiel im Kaufhaus vor einem Spiegel zu stehen, aber nichts, was sie anprobiert, entspricht dem Bild, das sie von sich hat. Ihr Bild wird falsch sein. Und nun?

»Irgendjemand hatte mal gesagt, dass Gefühle jung bleiben, auch wenn die menschliche Hülle davon nichts mehr zu zeigen weiß«, heißt es im Buch. Johannas Kinder meinten es ja gut, redeten ihr ein, »etwas zu tun, etwas zu lernen, etwas anzufangen mit sich selbst ...« Und in ihren Geschenken steckten entsprechende Ermahnungen. Ein Laptop, ein Jahresabonnement fürs Fitnessstudio und, immerhin, ein Gutschein für zehn Kinobesuche für zwei Personen. Wen wird sie da mitnehmen? Mit dem Laptop kommt sie erst einmal nicht klar. Und will sie denn ins Fitnessstudio?

Was will sie? Was täte ihr gut?

Katrin Pieper hat ein wahrhaftiges Buch über das Wagnis des Ungewissen geschrieben. Geh ins Offene, jetzt bist du frei.

Katrin Pieper: Leben nach Paul. Roman. HeRaS Verlag. 203 S., br., 10,70 €.

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