Die verhexten Kinder von Sokodé

In Togo versucht eine Kinderrechtsorganisation mit Aufklärung dem Aberglauben den Boden zu entziehen

  • Philipp Hedemann, Sokodé
  • Lesedauer: 7 Min.
In Togo werden Kinder der Hexerei bezichtigt und verfolgt. Bislang deckte ein Kartell des Schweigens die archaischen Verbrechen. Jetzt kämpft eine Kinderrechtsorganisation gegen die rituellen Morde.

»Ich weiß, dass es Hexer gibt, die Menschen töten können. Aber ich bin kein Hexer, ich bin ein ganz normaler Junge«, sagt Atamana. Seine Familie hingegen glaubt, dass er übermenschliche Kräfte besitzt und sie einsetzt, um Unheil über die Familie zu bringen. Sein eigener Bruder versuchte deshalb, Atamana rituell zu töten. Der damals Zwölfjährige behielt sein Leben, doch er verlor seine rechte Hand, die linke ist seitdem verstümmelt. Atamana ist eines von vermutlich Tausenden Kindern im westafrikanischen Togo, die jedes Jahr der Hexerei bezichtigt werden. Niemand weiß genau, wie viele Kinder misshandelt werden oder sogar sterben müssen, weil ihre eigenen Eltern, Verwandten oder Mitglieder der Dorfgemeinschaft sie für verhext halten.

Als Atamanas ältester Bruder erst schwer erkrankte und sich kurz darauf bei einem Motorradunfall das Bein brach, hatte seine Familie den Schuldigen schnell ausgemacht. Mehrere traditionelle Heiler und Vodoo-Priester erkannten in dem schüchternen Jungen einen Hexer. Auch für den Tod seines zwei Jahre zuvor verstorbenen Vaters sei er verantwortlich, behaupteten die einflussreichen Männer. Damit die Schläge endlich aufhörten, gestand der Junge schließlich, mit dem Bösen im Bunde zu stehen. Daraufhin beschloss seine Familie, dass Atamanas zerstörerische Macht nur durch seine Ermordung gebrochen werden könne.

Wie ein erlegtes Tier fesselte sein ältester Bruder ihn an Händen und Füßen an einen Ast, streute ihm Pfeffer in die Augen und legte ihn ohne Wasser und Schatten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in die sengende Hitze. Vier Tage wiederholte er das bestialische Ritual. Atamana konnte seine Hände und Füße nicht mehr spüren, wusste nicht, ob er noch lebte oder schon tot sei, als einer seiner anderen Brüder die Folter schließlich stoppte und den halbtoten Jungen ins Krankenhaus brachte. Dort konnten die Ärzte Atamanas Leben retten, seinen durch die tagelange Fesselung nicht durchbluteten rechten Arm mussten sie jedoch unterhalb des Ellenbogens amputieren, die linke Hand und beide Füße sind seit der Folter verstümmelt.

Die togoische Kinderrechtsorganisation Creuset bezahlte die notwendigen Operationen und Atamanas einmonatigen Krankenhausaufenthalt. Mittlerweile lebt der von seiner Familie Verstoßene und fast zu Tode gefolterte Junge zusammen mit anderen Kindern, die der Hexerei bezichtigt wurden, in einem Creuset-Kinderschutzzentrum in Sokodé im Norden Togos. »Auch im Togo ist es gesetzlich verboten, Kinder zu misshandeln oder gar zu töten, weil irgendjemand sie der Hexerei bezichtigt. Aber die Wahrung der Kinderrechte ist nicht gerade eine Priorität unserer Regierung«, sagt Geschäftsführer Bruno Moukpe Essodeke.

Creuset spürt im Togo »verhexte« Kinder auf, unterstützt sie medizinisch, psychologisch und juristisch und versöhnt sie - wenn möglich - mit ihren Familien. Nicht immer gelingt dies. Denn viele Togoer glauben, dass nur der Tod eines verfluchten Kindes das (Über-)Leben der Gemeinschaft ermöglicht.

Essodeke, selbst Vater von drei Kindern und gläubiger Katholik, schätzt, dass rund acht von zehn Togoern an Hexen glauben. Unter ihnen sind auch Polizisten, Richter und Politiker. Aus Angst vor den verhexten Kindern und den traditionellen Heilern, die Menschen angeblich mit furchtbaren Flüchen belegen können, trauen auch die, die es eigentlich müssten, sich nicht, gegen diejenigen vorzugehen, die Kinder töten oder zu ihrer Ermordung aufrufen.

Auch Antoine sollte sterben. Seine Familie warf dem damals sieben Jahre alten Jungen vor, für den Tod eines Onkels und eines Cousins und die Unfruchtbarkeit eines weiteren Onkels verantwortlich zu sein. Dieser Onkel behauptete zudem, dass der zierliche Junge ein gefährlicher Zauberer sei, der nachts Seelen esse. Um sein mörderisches Treiben zu stoppen, hielten seine Verwandten Antoines rechte Hand in einen Topf mit kochendem Wasser. Wäre die Hand in Flammen aufgegangen, hätte es der Familie als endgültiger Beweis gegolten, dass der Junge tatsächlich ein Hexer ist. Antoines Finger brannten nicht, doch seit dem Hexentest ist von der Hand nur noch ein vernarbter Klumpen übrig. »Mein Onkel ist dafür gerade mal zwei Wochen ins Gefängnis gekommen. Dann hat man ihn laufen lassen«, erzählt Antoine, während ihm Tränen übers Gesicht laufen. Der gute Schüler, dessen Mutter Analphabetin ist, möchte Informationsminister werden, mit einer Aufklärungskampagne dafür sorgen, dass in Togo keine Kinder mehr als Hexen verfolgt werden.

Auch Creuset setzt auf Aufklärung. Unter dem Motto »Kinder sind keine Hexen« versucht die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, »Ein Herz für Kinder«, »Aktion Sternstunden« und dem Verein »Kinderrechte Afrika« unterstützte Organisation, mit Radio- und Plakatkampagnen möglichst viele Togoer zu erreichen und Kinder, die der Hexerei bezichtigt werden, zu schützen und zu rehabilitieren. »Es geht uns nicht darum, Afrika umzuerziehen. Die ›Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehen des Kindes‹ geht in vielen Bereichen weiter als die UN-Kinderrechtskonvention. Wir wollen aber, dass sie endlich auch vollständig umgesetzt wird, damit Kinder geschützt und Gewalttäter hinter Schloss und Riegel gebracht werden«, sagt Horst Buchmann, Gründer und Vorsitzender von »Kinderrechte Afrika«. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Kinder können sich gegen falsche Anschuldigungen am schlechtesten zu Wehr setzen. Haben Jungen oder Mädchen in Togo eine körperliche Auffälligkeit wie ein vergrößertes Auge oder eine besondere Eigenschaft wie herausragenden Intelligenz, gilt dies oft als Zeichen böser Mächte, die Tod und Elend über die ganze Gemeinschaft bringen können. Vor allem in armen und ungebildeten Gemeinschaften auf dem Land zählt das Kollektiv zudem mehr als das Individuum. Mütter, die ihre Kinder vor den grausamen Formen des Exorzismus schützen wollen, haben meist keine Chance, sich gegen die Dorfgemeinschaft oder Heiler, die Kinder teilweise ohne jedes Unrechtsbewusstsein töten, durchzusetzen. Ein Kartell des Schweigens deckt die Verbrechen. Und das nicht nur in Togo.

»Da Hexenverfolgung in den allermeisten afrikanischen Staaten illegal ist, liegen keine offiziellen Statistiken vor. Aber man muss davon ausgehen, dass sie - unabhängig von Bildungsstand und Religionszugehörigkeit - in ganz Afrika praktiziert wird. Vor allem, wo Wettbewerb und Neid herrschen - sei es in der Schule, der Arbeitswelt oder im Sport - werden erfolgreiche Menschen oft der Hexerei bezichtigt. Deshalb gibt es ganze Berufsgruppen und Kirchen, die fast ausschließlich auf die Themen ›Hexen finden‹ und ›Hexen unschädlich machen‹ setzen«, sagt Idris Simon Riahi, der in Bayreuth über Hexenglauben in Westafrika promoviert.

Einer dieser Berufsgruppen fiel auch der zehnjährige Augustin zum Opfer. Sein Vater verdächtigte ihn, Hexer zu seien und machte ihn dafür verantwortlich, dass seine beiden jüngeren Halbbrüder ständig krank waren. Um ihm die bösen Geister auszutreiben, brachte der Togoer seinen Sohn zu einem weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten traditionellen Heiler. Für den Lohn von zwei schwarzen Ziegen und drei Katzen versprach der Teufelsaustreiber, Augustin und seine beiden jüngeren Brüder zu kurieren. Dazu verabreichte er Augustin jeden Tag Güsse mit einem selbstgebrauten Sud - und Schläge.

Den Rest des Tages verbrachte Augustin zusammen mit rund 30 anderen Kindern bei der Feldarbeit und in der Savanne, wo er nach Zutaten für die Essenzen des großen Meisters suchen musste. »Wir sind nicht zur Schule gegangen, haben den ganzen Tag wie Sklaven gearbeitet, kaum Essen und Trinken bekommen, und die Mädchen wurden oft vergewaltigt«, erzählt Augustin, dessen jüngster Bruder drei Tage nach Beginn seiner Gefangenschaft starb.

Während der Heiler in einem Haus in der Stadt wohnte und ein großes Auto fuhr, musste Augustin sich mit 15 anderen Jungen zwischen acht und 16 Jahren eine Hütte fernab des nächsten Dorfes teilen. Er und die anderen Kinder hatten so große Angst vor der Macht ihres Peinigers, dass sie es nicht wagten davonzulaufen. Da die meisten von ihnen auf Wunsch ihrer Eltern bei dem skrupellosen Scharlatan waren, unternahm auch die Polizei nichts, um sie zu befreien.

Nach einem Jahr wurde Augustin schließlich für umgerechnet rund 150 Euro von Creuset freigekauft. Seitdem lebt er im Zentrum der Kinderrechtsorganisation. Hier fürchtet sich niemand vor dem freundlichen Jungen. Sein Vater hingegen glaubt noch immer, dass sein ältester ihm seinen jüngsten Sohn genommen hat.

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