The Sound of Sonnenallee

Thomas Lindemann schrieb ein Buch über seinen Umzug von Prenzlauer Berg nach Neukölln

Es ist ein sonniger Freitagmittag in Neukölln. Am Siegfried-Aufhäuser- Platz vor dem S-Bahnhof Sonnenallee kippt ein Mann den »Spuckerest« seiner Bierflasche in den Gulli vor einem Späti, die Vögel singen ihr Lied. Thomas Lindemann, Journalist und seit kurzem Bezirkschronist, nimmt Notiz von der Szene, sagt aber nichts. Als Prenzlauer-Berger wäre ihm das vielleicht noch einen süffisanten Kommentar wert gewesen, mittlerweile wohnt Lindemann aber seit etwas mehr als einem Jahr in Neukölln und hat darüber ein Buch geschrieben, das man gerne schonungslos und ehrlich nennen möchte, aber das hat es nicht verdient.

Lindemann hat sich mit vielen Protagonisten des Bezirks getroffen, hat den Ex-Zuhälter und heutigen Karate-Meister Andreas Marquardt getroffen, der eine Kampfsportschule für Kinder- und Jugendliche betreibt, führte Interviews mit dem Imam der Al-Nur-Moschee und dem Integrationsbeauftragten des Bezirks. »Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche« ist die Bestandsaufnahme eines jungen Vaters, der aus seiner eigenen Komfortzone in Prenzlauer Berg in die Ungemütlichkeit der vielen Wahrheiten Neuköllns zog. Hier, wo nicht die Prenzlberger-Dreierkette (drei Frauen/Männer mit Kinderwagen nebeneinander) den Bürgersteig versperrt, sondern ausgeschlachtete Kühlschränke, Röhrenfernseher und Matratzen. Seine Freunde kommen ihn noch heute selten besuchen.

Neukölln, wenn es ein Computerspiel wäre - und damit kennt sich Lindemann aus, schließlich hat er das Schreiben übers Gaming für das Feuilleton stubenrein gemacht - wäre wohl ein Jump-n-Run, sagt er. »In Neukölln ist man ständig dabei, Dingen auszuweichen, hauptsächlich Müll, aber eben auch Menschen, die vor einem Imbiss sitzen. Vieles spielt sich hier auf der Straße ab.« Zuerst hätte er gerne gesagt, Neukölln sei wie ein Sneaking-Shooter, eine Unterart des Ego-Shooters, bei dem sich der Spieler aussuchen kann, ob er seinem Gegner ausweicht und ihn aus dem Hinterhalt attackiert oder ihn direkt fertig macht, aber das würde, sagt er, dem Bezirk doch nicht gerecht.

Bereut hat er den Umzug bisher nicht. »Für die Kinder war es wohl anfangs am härtesten«, sagt Lindemann, als wir vom Bahnhofsvorplatz an der Sonnenallee die Brusendorfer Straße nördlich in Richtung Sonnenallee laufen. Im Buch schildert er, wie seine Söhne sich als »Türkenhasser« outen, weil sie, kaum in Neukölln angekommen, im Körnerpark, dieser pittoresken Gartenanlage, erst herumgeschubst und einige Wochen später in der Hermannstraße beklaut werden. Für Lindemann kein Grund zur Panik, er fragt sich vielmehr: »Habe ich wirklich zwei Pegida-Trottel gezeugt?«

Dieser lakonische Humor und seine intensiven Gespräche mit Sozialarbeitern und Polizisten sind es auch, die das Buch nie ins Klischee abrutschen lassen, sobald es seitenlang um Schulhofschlägereien, arabische Familienclans oder Hundescheißestatistiken geht. Lindemann hat da weiter recherchiert, wo andere sich mit dem beruhigenden Balsam des Misstrauens einreiben. Dass sein Buch trotzdem inzwischen von Islam-Hasser in ihren bizarren Massenmails angepriesen wird, findet er »irgendwie amüsant«. Dabei, hätten sie es wenigstens bis zur Hälfte gelesen, beschreibt Lindemann darin eine Art Modellbezirk für die Zukunft Deutschlands. Das Zusammenleben der Menschen aus 152 Nationen klappt.

Kurz vor dem Hertzbergplatz bleiben wir an einem Imbiss stehen, ein Mann sitzt an einem Gartentisch, hat sein Bier ausgetrunken und holt nun den in einer unbeschrifteten Flasche abgefüllten Klaren heraus. Dabei singt er seiner Begleitung am Tisch gegenüber, einer älteren Damen im Dederonkittel, etwas auf Russisch vor. Thomas Lindemann will das aufnehmen, er ist Keyboarder einer Funkband und arbeitet mit seinen Kollegen gerade an einem Sampler, der den Sound von Neukölln einfangen will. Die Aufnahme scheitert vorerst an den leeren Batterien in seinem Aufnahmegerät. Da es in Neukölln aber keine verpassten Chancen gibt, weil sich ständig neue Möglichkeiten eröffnen, kauft er in einem Späti gleich nebenan neue. Die Verkäuferin will für einen Zwölfer-Pack AAA-Batterien zwei Euro. Draußen guckt er auf die Verpackung: Originalpreis 4,95 Euro.

Lindemann ist nach Neukölln gezogen, weil er die steigenden Mieten in Prenzlauer Berg nicht mehr bezahlen konnte. Das dritte Kind war unterwegs. Nachdem er sich mit seiner Frau Wohnungen für 2000 Euro warm angesehen hatte, beschlossen sie, wegzuziehen. Nun sind es sechs Zimmer in der Hermannstraße in einer aus zwei Wohnungen zusammengebauten Dachgeschosswohnung geworden, 120 Quadratmeter. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer. Im selben Haus unten wohnt eine fünfköpfige türkische Familie in drei Zimmern.

Lindemann gibt in seiner Freizeit einem Jungen kostenlos Klavierunterricht, der auf Mangas steht und die Musik aus den Filmen nachspielen will. »Total kitschig, aber der Junge hat wirklich Talent«, sagt Lindemann. Er hat das Bedürfnis, sagt er, stärker als es in Prenzlauer Berg je war, er müsse sich einbringen, weil die Menschen in Neukölln viel näher beieinander seien.

Lindemann, heute ohne die Ironikerbrille, wie er sie nennt, ein riesiges tropfenförmiges Modell, in die Neuzeit gerettet durch Menschen wie Martin Schulz, den EU-Parlamentspräsidenten, ist mit seinem Star-Wars-T-Shirt und den Sneakern eine nicht ganz so authentische Reminiszenz an die 80er wie Schulz, aber rein äußerlich kaum zu unterscheiden von denen, die in den Cafés in der Weserstraße sitzen. Wir sind am Ende unseres Spaziergangs angekommen. Von Menschen wie dem Imbiss-Wyssozki von vorhin ist hier, nur eine Parallelstraße weiter, nichts mehr zu sehen.

Thomas Lindemann: Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche. Unser neues Leben im Problemkiez, Berlin Verlag, geb., 287 S., 14,99 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal