Kursanpassung an die Realität

Was Sigmar Gabriels Vorstoß und Ferdinand Lassalle miteinander zu tun haben. Und warum die Linkspartei den »Platz der radikalen Linken« ausfüllen muss: Ein Debattenbeitrag von Benjamin-Immanuel Hoff und Alexander Fischer

  • Benjamin-Immanuel Hoff und Alexander Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ferdinand Lassalle verdankt die politische Linke eine vielzitierte Einsicht: »Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen, was ist und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und dem Bemänteln, was ist.«

Mit seinem Namensbeitrag im aktuellen »Spiegel« folgt der amtierende SPD-Vorsitzende zunächst einmal nur dem Ahnherren der deutschen Sozialdemokratie. Unbestritten erlebt Deutschland in der Mitte Europas einen Rechtsruck von bisher ungekanntem Ausmaß. Unbestritten formiert sich die politische Rechte im Verein mit Teilen der konservativen Eliten zu einem Block, der mindestens zurück hinter die ökonomischen, kulturellen und sozialen Reformen will, die Deutschland der 68er-Bewegung verdankt. Empirisch ist mit Blick auf die Geschichte nicht zu widerlegen, dass eine Linke stärker als viele Linke ist. Wer schließlich die verfügbaren demoskopischen Daten mit den Grundrechenarten und den Regeln parlamentarischer Demokratie verbindet, kommt zu dem Ergebnis, dass die SPD das Kanzler/innen-Amt nur in einer einzigen Bündniskonstellation realistisch erringen kann: Rot-Rot-Grün, im Gabriel-Text: in einem »Bündnis aller Progressiven«.

Sigmar Gabriel hat also im »Spiegel« nur Wahrheiten ausgesprochen, die unbestreitbar sind. Mit Lassalle darf man ihm attestieren, dass er den Versuch macht, aus der politischen Kleingeisterei auszubrechen, die den Umgang der Mitte-Links-Parteien miteinander hierzulande jahrelang prägte. Die Folgen dieser Kursanpassung, wenn sie mehr ist als eine publizistische Eintagsfliege, sind weitreichend.

Wir haben an dieser Stelle bereits deutlich gemacht, dass jenseits aller Mainstream-Deutungen der demoskopischen Lage Rot-Rot-Grün nicht in unerreichbarer Ferne sondern im Kern »nur« etwa fünf bis acht Prozentpunkte vom gegenwärtig gemessenen Zustand entfernt liegt. Der gegenwärtig gemessene prozentuale Anteil von SPD, LINKEN und Grünen entspricht addiert etwa dem, was sie im September 2013 zusammen genommen erreichten. In der »Bild«-Zeitung schreibt Rolf Kleine (vielleicht erinnert sich noch irgendwer, für wen der noch im Bundestagswahlkampf 2013 sprach): »Sollten sich Grüne und Linke auf die SPD-Strategie einlassen, wird die Wahl 2017 so spannend wie lange nicht mehr!«

Man darf es vielleicht so ausdrücken: Sigmar Gabriel macht den Versuch, den Kurs der SPD an die Realität anzupassen. Für LINKE (und Grüne) kommt nun viel darauf an, dasselbe zu tun. Sigmar Gabriel dürfte sehr genau wissen, dass ein Mitte-Links-Bündnis in beiden Parteien aus verschiedenen Gründen nicht unumstritten ist. Und man unterstellt ihm nicht unlautere Absichten, wenn man annimmt, dass er natürlich auch im Sinn hat, den Ball ins Feld beider Parteien zu spielen und die dortigen inneren Richtungsdebatten zu befeuern.

DIE LINKE hat mit dem nie revidierten Beschluss des Parteivorstands vom 23.9.2013, der die Bereitschaft zur Aufnahme von Sondierungen für die Bildung einer Bundesregierung auf Basis der existierenden parlamentarischen Mehrheit im Bundestag erklärte, eine Grundsatzentscheidung getroffen. Keine Zeit zu verlieren ist für den Beginn der Debatte darüber, was man in einer solchen Konstellation erreichen will und realistischerweise erreichen kann. Wir haben bereits an dieser Stelle deutlich gemacht, dass die inhaltlichen Schnittmengen groß genug sind, um sich auf eine progressive Agenda zu einigen. Die größere Aufgabe, vor der nun die Führung von Partei und Fraktion steht, ist die Moderation eines partei- und fraktionsinternen Verständigungsprozesses. Die Erfolgsaussichten eines solchen Prozesses sind umso größer, je mehr sich alte und neue soziale Bewegungen in ihn einmischen. Wenn die politische Linke als Ganze Gabriels Kurswechsel richtig verarbeiten will, dann muss sie einen gesellschaftlichen Dialogprozess einsteigen, der auf allen Ebenen geführt wird.

DIE LINKE muss und darf sich in diesem Prozess nicht als Akteurin vorgezogener Koalitionsverhandlungen präsentieren, sondern muss im Anschluss an Thomas Falkners wichtigen Text den »Platz der radikalen Linken« einnehmen. Es geht nicht ums vorgezogene »Weichspülen« felsartiger programmatischer Sprachgebirge sondern um die dialogische Entwicklung radikaler und praktisch verfolgbarer Lösungsansätze für die großen Herausforderungen der Zeit, die sich nach unserer Überzeugung in einer konsistenten Erzählung um die Begriffe Sicherheit und Heimat gruppieren lassen.

»Eine progressive Agenda muss soziale Sicherheit und innere Sicherheit verbinden«, hat Bodo Ramelow in Reaktion auf Gabriels Vorstoß zu Protokoll gegeben. Sie muss darüber hinaus den rechten Hetzern das Wort Heimat entreißen. Die Tatsache, dass Millionen auf dieses Land als sicherer Fluchthafen schauen, sollte ausreichendes Indiz dafür sein, dass es sich lohnt nach dem zu suchen, was dieses Land für uns und andere lebenswert macht: Demokratie, soziale Sicherheit, Weltoffenheit, Einbettung in eine europäische Friedensordnung. Mit Recht kann man auf die riesigen Defizite in all diesen Bereichen verweisen, aber mit ebenso viel Recht, auf die viele Arbeit, die auf eine Mitte-Links-Regierung wartet, um dieses Land zu einer Heimat zu machen für diejenigen, die jetzt hier leben, und diejenigen, die als Flüchtlinge oder Zuwanderer neu dazu kommen.

Benjamin-Immanuel Hoff ist Linken-Politiker, Chef der Thüringer Staatskanzlei und Landesminister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. Alexander Fischer war Regierungssprecher in Thüringen und arbeitet derzeit in Berlin für die rot-rot-grüne Landesregierung des Freistaates.

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