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Versklaven und vernichten

Vor 75 Jahren begann das mörderische »Unternehmen Barbarossa«

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 5 Min.

Einer der Exponenten des deutschen Industrie- und Bankkapitals, Hermann Röchling (1872-1955), schrieb am 17. August 1936 seinem Gesinnungskumpanen, dem Reichskanzler Adolf Hitler: »Deutschland hat mit seinem Antisemitismus dem in Russland absolut herrschenden Judentum und dem Judentum der Welt, dem einflussreichsten Vorkämpfer des Bolschewismus, den schärfsten Kampf angesagt.« Der nicht zu vermeidende Krieg gegen die UdSSR werde in erster Linie ein Krieg der Technik sein. Das wichtigste bleibe aber dennoch, »dass das Volk stark genug gemacht wird, die Belastungen auszuhalten, die ein solcher Krieg bedeutet«.

Die unmittelbare Vorbereitung für den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion begann Mitte 1940, nachdem Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Belgien, Luxemburg, Holland, Frankreich, Dänemark und Norwegen bereits von der faschistischen Wehrmacht erobert und damit die Hegemonie über den westlichen Teil des europäischen Kontinents okkupiert war – ein Territorium von 850 000 Quadratkilometer mit 100 Millionen Einwohnern. Erst jetzt habe man die Hände frei für die »große und eigentliche Aufgabe: die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus«, formulierte Hitler im engsten Führungskreis.

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Eine bittere Lehre

Russland vergisst nicht: Zweimal erkoren es deutsche Politiker, Wirtschaftsführer, Militärs als Gegner aus, zweimal war dieser Brocken unverdaulich. Ein drittes Mal standen sich Moskau und Westdeutsche gegenüber.

Versklaven und vernichten

Am 22. Juni 1941 eröffnete das Deutsche Reich auf breiter Front zwischen Ostsee und Karpaten den Krieg gegen die Sowjetunion. Die Wehrmacht fiel mit 153 Divisionen und über drei Millionen Soldaten in das Land ein.

Am 3. Juli 1940 notierte Generalstabschef Franz Halder, die wichtigste operative Aufgabe sei nunmehr, »wie ein militärischer Schlag gegen Russland zu führen ist«. Die Erörterung dieser Frage erfolgte auf einer Beratung am 31. Juli 1940. Als Zeitpunkt für den Überfall wurde das Frühjahr 1941 auserkoren und als Ziel angegeben: »Vernichtung der Lebenskraft Russlands.« Die Führerweisung Nr. 21 vom 18. Dezember 1940, überschrieben als »Fall Barbarossa«, bestimmte, den »Blitzkrieg« gegen die UdSSR streng geheim und umfassend vorzubereiten und bis zum 15. Mai 1941 abzuschließen.

Der von der faschistischen Achse Berlin-Rom-Tokio entfesselte Zweite Weltkrieg unterschied sich vom vorangegangenen Weltkrieg der Jahre 1914 bis 1918 gravierend. Denn er wurde durch die neue Abart des Kapitalismus, den Faschismus, der hierzulande meist noch irreführend »Nationalsozialismus« genannt wird, mit besonderer Wucht, Härte und Grausamkeit gegen die zum Kapital alternative staatssozialistische Gesellschaftsordnung auf einem Sechstel der Erde geführt. Der Eroberungsfeldzug Deutschlands gen Osten wurde zu einem rasseideologischen Weltanschauungskrieg, nicht nur gegen die »jüdisch-bolschewistische« Sowjetunion. Er war generell auf die Vernichtung der Juden und Slawen, auf Unterwerfung und Versklavung aller »nichtarischen« Völker gerichtet.

Das offenbarte sich schon bei der Annexion der Tschechoslowakei und Polens und erreichte mit dem »Unternehmen Barbarossa« seinen schrecklichen Höhepunkt. Die faschistischen Eroberer entschieden, wer von der Gattung Homo sapiens weiter leben darf, wer physisch zu vernichten ist, aus seiner Heimat deportiert, »eingedeutscht« oder zum Helotendasein verdammt wird. Auf einer Beratung mit der Wehrmachtsführung am 30. März 1941 charakterisierte Hitler das Wesen des Krieges gegen die UdSSR: »Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. Wenn wir es nicht so auffassen, dann werden wir zwar den Feind schlagen, aber in 30 Jahren wird uns wieder der kommunistische Feind gegenüberstehen. Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen.«

So waren grundlegenden Pläne und Anordnungen des »Falles Barbarossa« Anweisungen zu Kriegsverbrechen und Völkermord . Davon zeugen die »Richtlinien für das Verhalten der Truppe«, der sogenannte Kommissarbefehl und die systematische Vernichtung von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen durch Massenerschießungen, Aushungern und Zwangsarbeit.

Bestandteil der Kriegsplanung waren seit November 1940 die »Wirtschaftsorganisation Ost« und das Anfang 1941 gegründete Führungsgremium »Arbeitsstab Russland« (später »Wirtschaftsstab Ost«). Sie sollten die sowjetische Beute unter den deutschen Großkonzernen, Großagrariern, Banken und Nazifunktionären aufteilen. Sie waren weit mehr als ein traditionelles Instrument der Kolonialpolitik des deutschen Industrie- und Finanzkapitals. Ihre Aufgabe war die totale Ausplünderung Osteuropas.

Die »Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neu besetzten Gebieten« vom 23. Mai 1941 (»Grüne Mappe«) sah als gnadenloses Schicksal für die Völker der Sowjetunion vor: »Viele 10 Millionen von Menschen werden ... überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort vor dem Hungertod zu retten ... unterbinden die Durchhaltepolitik Deutschlands und Europas. Darüber muss absolute Klarheit bestehen.« Die Naziführung samt Wehrmacht und Bürokratie, Industrie- und Bankkapital kalkulierten von vorn herein ein, dass »zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird«.

Heinrich Himmler, Führer der SS samt todbringender Einsatzgruppen und zugleich Reichskommissar für die Festigung des Volkstum, organisierte maßgeblich auf der Grundlage des »Generalplanes Ost« den Vernichtungskrieg. Von dem »unerwünschten Volkstum« im neuen »Lebensraum« im Osten, das Anfang 1942 mit 45 Millionen Menschen beziffert wurde, sollten 31 Millionen in den folgenden 30 Jahren hinter dem Ural abgeschoben werden – die noch lebenden Juden zu 100 Prozent, die Polen zu 85, die Weißrussen zu 75, die Ukrainer zu 65 Prozent.

Die sowjetische Führung und die Kominternspitze ahnte zwar schon 1935, dass Hitlerdeutschland und dessen Verbündete über kurz oder lang einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion beginnen würden und brandmarkten die NS-Ideologie und die deutsche Außenpolitik als geprägt von einem »Chauvinismus in seiner brutalsten Form, der einen tierischen Hass gegen die Völker« schüre. Aber schon drei Jahre später war davon keine Rede mehr. Der neue Weltkrieg, so verkannte Stalin im September 1939, sei eine der üblichen Auseinandersetzungen, wie sie schon vordem zwischen imperialistischen Staaten um die Neuaufteilung der Welt geführt worden seien. Erst nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941, auf den Tag genau ein Jahr nach der Kapitulation Frankreichs, begriff er seinen Irrtum und die tödliche Gefahr, die vom deutschen Faschismus ausging.

Der Völkermordkrieg konnte beginnen, weil sich die Gegenkräfte zu spät in einer Antihitlerkoalition formierten. Aber auch, weil Stalin und seine Umgebung Hitler unterschätzten und Informationen über die Kriegsvorbereitung, die an ihn oder die sowjetische Führung von hervorragenden Kundschaftern und Mitarbeiter der sowjetischen Aufklärung in Berlin, Warschau, in der Schweiz, Rumänien und Japan beschafft wurden, nicht ernst nahmen. Diesen großen Fehler bezahlten nicht nur Spione und Widerstandskämpfer im »Dritten Reich« mit dem Leben, sondern vor allem die Völker der Sowjetunion mit unermesslichen Opfern.

Es bleibt das historisch einmalige Verdienst der Sowjetunion, ihrer Völker und der Roten Armee, den größten Anteil an der Zerschlagung des faschistischen Deutschland und an der Befreiung Europas von faschistischem Terror und deutscher Versklavung erbracht zu haben. Exakt 1418 Tage zählte der Große Vaterländische Krieg. Unter den 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges waren allein 27 Millionen Sowjetbürger.

Professor Karl-Heinz Gräfe ist Osteuropaforscher und Mitglied der Historischen Kommission der LINKEN.

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