Diese Revolution 
hat kein Gesicht

Zwei Romane erzählen über emanzipatorische Kämpfe des 16. Jahrhunderts und eröffnen einen neuen Blick auf die Geschichte.

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Roman »Q« des italienischen Autorenkollektivs Luther Blissett könnte für das bevorstehende Lutherjahr gut zur linksradikalen Pflichtlektüre avancieren. In dem 700 Seiten dicken und bis zum Ende spannenden historischen Romanabenteuer - verfasst in den späten 1990er Jahren und nun wieder neu aufgelegt - geht es um die Ereignisse in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Auch wenn die Romanhandlung in Wittenberg beginnt und die Ereignisse der Reformation das zentrale Thema sind, spielt Martin Luther (»die Marionette der deutschen Adligen«, wie es einmal heißt) nur eine Nebenrolle. Vielmehr geht es mit Thomas Müntzer, dem Bauernkrieg, den Täufern in Münster und zahlreichen anderen »Häretikern« zwischen Antwerpen, Rom und Istanbul um die sozialrevolutionären Möglichkeiten der damaligen Umbruchzeit, als Europa durch die Habsburger eine imperiale Neuordnung erlebte.

Gleichzeitig fungiert der voluminöse Text aber auch als Allegorie auf eine Geschichte der Linken, ihrer Kämpfe, des immer wiederkehrenden Scheiterns, aber auch ihrer Utopien und kollektiven Mythen. Insofern weisen der Roman »Q« und die Arbeit des mittlerweile in Wu Ming umbenannten Autorenkollektivs weit über das Lutherjahr hinaus und stellen ganz grundsätzliche Fragen über das Funktionieren von Geschichte und kollektiven Erzählungen als Teil politischer Kämpfe. Im September erscheint zudem mit »Altai« ein Fortsetzungsroman des Wu-Ming-Kollektivs, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen der Republik Venedig und des Osmanischen Reiches angesiedelt ist und in dem einige Personen aus »Q« wieder auftauchen.

Im Zentrum von »Q« steht eine im Lauf der Jahrzehnte mehrmals die Identität wechselnde Figur, die quer durch Europa zieht und immer am Puls der verschiedenen Revolten steht. Als Vertrauter von Thomas Müntzer kann er sich bei der finalen Niederlage im Bauernkrieg gerade noch retten, als der fürstliche Herrschaftsapparat 1525 in Frankenhausen die Revolte mit einem mehrtägigen Massaker erstickt. Später ist er bei den Täufern in Münster, die unter anderem das Eigentum vergesellschaften, schließlich aber in eine absurd repressive Schreckensherrschaft abdriften. Brunnengert alias Lot alias Boekbinder alias Niemanson zieht weiter nach Antwerpen, wo er in einer Art antiautoritärer Kommune der Anabaptisten lebt. Schließlich geht er, nachdem er bei einem international organisierten Schuldverschreibungsbetrug gegen die Fugger ein Vermögen verdient hat, nach Venedig. Dort beginnt er zusammen mit einer jüdischen Familie ein häretisches Buch zu vertreiben. An diesen Handlungsstrang knüpft der 2009 im italienischen Original erschienene Roman »Altai« an, in dem der wandlungsfähige Revolutionär erneut eine Rolle spielt. Sein Gegenspieler im Luther-Blissett-Roman ist der Titel gebende »Q«, ein Agent des italienischen Fürsten und späteren Inquisitors Gian Petro Carafa, der 1555 als Papst Paul IV. eine harte Linie gegen die Reformation fährt. »Q« steht manipulierend als Agent provocateur im Zentrum vieler Aufstände.

Im 16. Jahrhundert treffen wir, wie Wu Ming 2008 in einem Text zu Rezeption und Wirkungsgeschichte ihres Romans in der radikalen Linken schreiben, »Anarchist_innen, Protohippies, sozialistische Utopiker_innen, gestandene Leninist_innen, mystische Maoist_innen, verrückte Stalinist_innen, die Roten Brigaden (…). Eine große Armee von Geistern und Metaphern.« Das Kollektiv schreibt nicht über heldenhafte Personen, die es in den Kanon der Geschichte geschafft haben, sie erzählen - in »Q« und auch in ihren anderen historischen Romanen - von den namen- und gesichtslosen Akteuren emanzipatorischer Bewegungen. Die Multitude als handelndes kollektives politisches Subjekt spielte für die Linke in den 1990er Jahren unter anderem durch den Einfluss von Antonio Negri (der den Begriff der multitudo von Spinoza übernahm) eine große Rolle. Luther Blissett übertragen aber nicht nur ein Konzept der Multitude in eine literarische Form. Nach Angaben der Autoren spielte auch der Zapatismus eine entscheidende Rolle bei der Themenfindung für »Q«. In dem mexikanischen Aufstand 1994 als einer Erhebung der Bevölkerung an der ländlichen Peripherie erkannten sie eine Parallele zum Bauernkrieg Anfang des 16. Jahrhunderts.

Auch das zapatistische Konzept des gesichtslosen Revolutionärs durch Subcomandante Marcos, der im Grunde jeder sein kann, kommt hier zum Tragen. (»Wenn ihr das Gesicht unter der Vermummung sehen wollt, nehmt einen Spiegel und seht euch selber an.« - Subcomandante Marcos) Daraus kreierte das Kollektiv, das nach dem riesigen Erfolg des Romans »Q« einen rituellen Selbstmord inszenierte und seinen Namen in Wu Ming änderte, ein grundlegendes Motto einer politischen und künstlerischen Arbeit: »Diese Revolution hat kein Gesicht.« Schon in den Anfangsjahren des Phänomens Luther Blissett kam das zum Ausdruck. Denn bevor die vier aus Bologna stammenden Autoren, die lange Zeit nur unter ihrem Pseudonym bekannt waren, Bücher schrieben, war Luther Blissett eine Chiffre für linke Aktionskunst. Mitte der 1990er Jahre wurden in Italien zahlreiche Aktionen an der Schnittstelle von Politik und Kunst umgesetzt, wobei dahinter eine Strategie stand, die unter dem Begriff der Kommunikationsguerilla einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung linksradikaler Politik nicht nur in Italien hatte.

Für Luther Blissett / Wu Ming geht es in ihrer Literatur (in mittlerweile sieben Romanen) darum, Mythen von unten zu konstruieren, die einen neuen Blick auf die Geschichte zulassen. Ihre Erzählungen sollen »emblematischen Wert« haben, wobei die Mitglieder der politischen und kulturellen Community die Erzählung kontinuierlich neu kreieren und sozialisieren. Kurz nach Erscheinen des Romans »Q«, Luther Blissett waren auf einer Lesereise, kam es zu den Krawallen während des WTO-Gipfels in Seattle. Etwas Grundsätzliches veränderte sich, die »große Armee von Geistern« in Form vermummter wiedergängerischer Gespenster suchte das Stadtzentrum von Seattle heim, um dort »in Zeiten konterrevolutionärer Arroganz« ein kämpferisches Zeichen zu setzen. Das Ende der Geschichte als Ausdruck neoliberaler Hegemonie wurde plötzlich infrage gestellt. Mit der Anti-Globalisierungsbewegung wurde wieder ein politisches Begehren gegen die herrschaftsförmige Ordnung formuliert. Die Lektüre von »Q« inspirierte dabei nicht wenige Aktivisten in Italien.

Die Thomas Müntzer zugeschriebene Parole »Omnia sunt communia« als Ausdruck einer Vergesellschaftung von Eigentum - ein zentraler, immer wiederkehrender Satz in »Q« - erschien in Italien während der Jahre der Anti-Globalisierungsbewegung plötzlich regelmäßig auf Hauswänden. Die Realität holte den Roman ein, dessen Inhalte virale Verbreitung fanden. Die Niederlage dieser Bewegung, als sich im Sommer 2001 in Genua faschistische Gewalttäter in Uniform tagelang ungehindert austobten, assoziierten die Autoren mit Frankenhausen. Die dortige Niederlage des Bauernkrieges ist eine der Eröffnungsszenen in »Q« mit der ganzen widerlichen Gewalt konterrevolutionärer und exterminatorischer Herrschaftspolitik.

»Thomas Müntzer sprach zu uns (…) es war keine Segnung, sondern eine Warnung«, schrieben Wu Ming 2008. Die Mythen-Konstruktion von unten hatte ihrer Meinung nach zu dieser Zeit bis zu einem gewissen Grad gut funktioniert. Erfolgreich, wie sie waren, wurden sie zu einer Agitprop-Zelle. Die Kontexte politischer Aufrufe - zu den Gipfelprotesten in Genua - und die Literatur vermischten sich. »Der Geist von Thomas Müntzer, und - als Konsequenz daraus - wir Autoren des Romans finden uns im Zentrum der Mobilisierung wieder.« Darüber waren die vier nicht glücklich, vor allem, als Genua zum Wendepunkt der linken Bewegung wurde. Es folgten die Anschläge des 9/11 im Jahr 2001 und die Krise der italienischen Linken 2003, als es auch hierzulande im Zug der Debatten um den Irak-Krieg zu zahlreichen Spaltungsprozessen kam. War zuvor in der Linken immer wieder - auch mit Bezugnahme auf »Q« - von einem belagerten Empire die Rede, drehte sich die Metapher um. »Die Belagerten wurden wir«, so Wu Ming.

Mit den Mythen gilt es also fortwährend kritisch Zwiesprache zu halten und sich nicht von ihnen vereinnahmen oder sie gar zu Ikonen werden zu lassen. Mittlerweile hat mit den Krisenprotesten der letzten Jahre von Occupy bis zur jüngsten Protestbewegung der Nuit Debout in Paris ein neuer Zyklus politischen Aufbegehrens von unten eingesetzt. Luther Blissett wurden bei militanten Auseinandersetzungen in Rom gesichtet. Dort verteidigten sich protestierende Studenten im November 2010 gegen die anrückende Polizei mit Styroporschildern, auf die Buchtitel gepinselt waren. Neben Melvilles »Moby Dick« und Deleuzes »1000 Plateaus« tauchte auch »Q« von Luther Blissett auf, um auf der Straße ganz praktisch gegen den Herrschaftsapparat eingesetzt zu werden.

Auch hierzulande ließe sich der Roman im bevorstehenden Lutherjahr neu kontextualisieren, um dem herrschaftsförmigen Gedenken einen anderen Blick auf die Geschichte entgegenzusetzen und von jener Revolution zu erzählen, die ohne Gesicht auskommt. Und um den Mythos all der aufständischen Revolten - ob in der Realität oder in der Fiktion - fortzuschreiben.

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