»Die haben gesagt: Ihr habt den Krieg verloren«

Olympiasieger Rüdiger Helm über sein zweites Leben im Westen und ein Haus am Berg mit Fernsicht nach Osten

  • Lesedauer: 9 Min.
RÜDIGER HELM, heute Leiter des kommunalen Bauhofes der Gemeinde Timmendorfer Strand an der westlichen Ostsee, war einst für die DDR dreifacher Kanurennsport-Olympiasieger und zehnfacher Weltmeister, damals erfolgreichster Kanute der Welt (r.). 1970 gewann der Neubrandenburger erstmals bei der Kinder- und Jugendspartakiade. In Montreal (1976) und Moskau (1980) sammelte er Olympiagold, war elf Jahre in der Nationalmannschaft und im Kajak ab 1000 Meter aufwärts Nummer eins in der DDR. Eigenart: immer barfuß im Boot und ohne Sitzkissen. Der inzwischen 50-Jährige ist seit fast 30 Jahren verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.
ND: Wie kommt es, Herr Helm, dass Sie als dreifacher Olympiasieger und zehnfacher Kanu-Weltmeister so gänzlich raus aus dem Sport sind?
Helm: Was heißt hier raus? Immerhin bin ich bei der jüngsten Drachenboot-Klub-WM mit meinem Team in unserer Altersklasse sechs Mal Weltmeister geworden.

Dann eben anders gefragt: Warum arbeitet ein diplomierter DHfK-Absolvent und erfolgreicher DDR-Verbandstrainer heute als Leiter des kommunalen Bauhofes der Gemeinde Timmendorfer Strand?
Der Job hier war und ist für mich ein Glücksfall. Seit sieben Jahren schon. Vorher, also nach 1990, sah das lange nicht so rosig aus.

Warum war für Sie damals im bundesdeutschen Kanuverband eigentlich kein Platz?
Da wurden nach dem Ende der DDR die Pfründe neu verteilt und auch persönliche Rechnungen beglichen. Die haben mir ganz klar gesagt: Ihr habt den Krieg verloren, mit dir arbeiten wir nicht zusammen. Basta.

Und keiner hat sich die Mühe gemacht, die ganze Sache sportlich-fachlich zu bemänteln?
Wie hätte das gehen sollen? Noch 1992 bei Olympia in Barcelona waren von den 18 Mitgliedern der Kanunationalmannschaft 15 aus der DDR. Die sechs Goldmedaillen dort haben allesamt Leute geholt, die ich mit groß gemacht hatte.

Aber die bundesdeutschen Kanuten waren auch nach 1992 alles andere als erfolglos. Noch in Sydney 2000 gab es drei Mal Gold im Kanurennsport.
Ja, wegen der DDR-Schule im Allgemeinen sowie Birgit Fischer-Schmidt und Andreas Dittmer im Besonderen. Der damalige BRD-Cheftrainer Josef Capousek war dazu gekommen wie die Jungfer zum Kind.


Kein Platz für den DDR-Erfolgstrainer

In der Ex-BRD war Kanurennsport ja auch eher eine Freizeitveranstaltung. Sie sind da in der Wendezeit vielleicht zu ambitioniert aufgetreten.
Na klar war ich selbstbewusst. Manche haben auch gemeint arrogant, aber ich sehe mich nicht so. Ist aber auch egal, die neuen Leute wollten mich nicht mehr im deutschen Sport, und da hab ich ein Angebot als Cheftrainer in Österreich angenommen.

Das ging gut, aber nicht lange. Warum nicht?
Alle gaben sich dort riesige Mühe. Und wir hatten leistungsmäßig bei den WM 1991 zu 1990 geradezu einen Sprung geschafft. Aber ich sah dann recht schnell ein, dass mehr nicht drin gewesen wäre; da fehlte ganz einfach die Basis für Spitzenleistungen.

Und daraufhin haben Sie einen sicheren Sechsjahresvertrag einfach sausen lassen?
Na ja, aus heutiger Sicht war das ein bisschen irre. Aber ich steckte mit dem Kopf einfach noch viel zu tief im Leistungssport drin. Der Umstieg vom DDR-Niveau nach Österreich war etwa wie von der 1000er BMW aufs Tourenfahrrad. Und es war sicher auch ein bisschen Frust dabei, in Deutschland nicht mehr gebraucht zu werden. Also wenn schon nicht richtig Spitze, dann lieber ganz was anderes, muss ich damals wohl gedacht haben ...

... und der Zufall kam mit einem Angebot, an der westlichen Ostsee den sportlichen Teil eines neuen Fitnesscenters zu übernehmen?
Ja, das war Zufall, aber das, worum es ging, hatte ich ja gelernt an der DHfK. Doch der Investor eröffnete mir dann: Wissen Sie, mir fehlt hier eigentlich auch der Chef für die ganze Anlage, Ihnen würde ich das zutrauen. Und so hatte ich dann plötzlich 80 Mitarbeiter unter mir.

Solch Management war Ihr Ding bislang nicht, oder?
Ich konnte da zum einen nicht mehr groß wählerisch sein. Und zum anderen hatte ich in der DDR eine solide Schul- und Hochschulausbildung genossen. Und wissen Sie, ich bin in 16 Jahren Leistungssport 120 000 Kilometer gepaddelt, drei Mal um die Erde. Bei Eis und Schnee, bei Wind und Wetter. Das geht nur mit Kämpferherz und Ehrgeiz.

Und das reichte dann fürs neue Metier als Startkapital?
Sicher nicht, aber es half. Angst habe ich nie gekannt, und vor Verantwortung habe ich mich nie gedrückt. Später, als der Chefjob des Bauhofes in Timmendorfer Strand ausgeschrieben war, gab es rund 200 Bewerbungen, und ich bekam ihn. Und sicher nicht nur, weil ich mit dem Kurdirektor bei den Alten Herren Fußball gespielt habe.

Ohne Kämpfermentalität wären Sie zu DDR-Zeiten ja auch nicht auf die Kinder- und Jugendsportschule gekommen.
Das klingt wieder so martialisch, nach seelenlosem Ausgesiebe. Wissen Sie, wie das bei mir war? Bis zur sechsten Klasse hab ich geboxt, Fußball und Handball gespielt. Dann hat uns ein neuer, junger Sportlehrer zum Kanu geschickt. Nachdem ich das erste Mal ins Wasser gefallen war, es war wohl Oktober, verbot mir meine Mutter, da weiter hinzugehen. Wenig später sagte einer von denen aus meiner Klasse, die weiter hindurften, zu mir: »In zwei Monaten kriegste von mir eins auf die Fresse, Rüdiger, wir machen jetzt nämlich Krafttraining.« Da dachte ich so bei mir: Dir haut keiner was auf die Fresse - und bin heimlich auch wieder hin. So ist das bei mir gewesen. Nichts mit staatlichem Auswahlzwang, sondern vor allem mit Spaß.

Allein damit wird man nicht Erster.
Richtig. Du musst dich schinden und quälen können. Aber ohne Spaß, ohne Ehrgeiz, ohne Siegeswillen geht das auch nicht. Aber eben auch nicht mit Druck, in dem heute mancher - neben Doping - den vermeintlichen Kern der DDR-Erfolge zu erkennen glaubt.

Was war Ihr größter Erfolg?
Also das erste Olympiagold in Montreal damals 1976 war wohl schon was Gewaltiges.

Und der Tiefpunkt?
1984, als wir wegen des Boykotts von Sowjetunion und Bruderländern nicht bei Olympia in Los Angeles dabei sein konnten. Das war eine politisch erklärbare Entscheidung, aber keine richtige und eine ganz schmerzhafte.


Am Fernseher geheult wie ein Schlosshund

Obwohl der Staat DDR den Schmerz der Aktiven ja doch einigermaßen linderte?
Ja, es gab für uns trotz allem Ehrungen und Auszeichnungen. Aber als ich Los Angeles im Fernsehen sah, habe ich geheult wie ein Schlosshund. Das kann sicher nur ein Sportler verstehen, der sich jahrelang geschunden hat - umsonst.

Sie haben bald danach aufgehört. Warum, Sie waren noch recht jung?
Jung schon, aber auch schon elf Jahre in der Knochenmühle der Nationalmannschaft. Und dann war ich nach dem Boykott leer im Kopf. Die Seiten zu wechseln, als Trainer und Funktionär zu verhindern, dass so etwas Sportlern noch mal widerfährt, schien mir eine gute Alternative.

Sie sollten schon 1985 Verbandstrainer werden, wurden es dann aber erst 1988. Warum?
Also ich war ein guter Sportler, ein guter Schüler, ich war in der Partei, ich war ein guter Student. Ich bin nie angeeckt und fühlte mich auch gut dabei. Wahrscheinlich wollte ich dann einfach mal ausbrechen. Ich hatte was mit einem Mädchen, dann eine ziemliche Ehekrise, aber glücklicherweise hat mich meine Frau wieder aufgenommen. Dennoch hat mich der Verband trainermäßig erst einmal auf die nationale Weide geschickt. Sozusagen zur Bewährung, und auch aus heutiger Sicht finde ich das ganz okay so.

Aber so ganz streng war die Westauslandssperre dann nicht.
Sie meinen die Sache mit dem Coubertin-Fair-Play-Preis, den ich 1985 in Paris erhielt. Na, erst ein mal wollten sie mich ja nicht allein fliegen lassen. Doch dann hat sich wohl bei den Verantwortlichen die Gewissheit durchgesetzt, dass der Helm wiederkommt.

Wofür genau haben Sie diesen Preis bekommen?
Das war eine Ehrung für meine gesamte internationale Laufbahn. Warum gerade ich, habe ich mich auch manchmal gefragt. In der Tat habe ich Sport immer als Völker verbindende Sache angesehen und mich so bei den Wettkämpfen bewegt. Ja, ich wollte auch zeigen, dass ich als DDR-Sportler weltoffen bin, zu Hause mein Glück gemacht habe, meine Heimat liebe, nicht nur verbohrt die Regattastrecke runterdonnere.

Wie hat der weltoffene DDR-Spitzensportler Helm eigentlich den Westen wahrgenommen?
Ich wusste, wo ich hingehöre, und ich war aus Überzeugung Genosse. In den 80er Jahren sind aber bei uns in der Republik selbst Dinge gelaufen, die meinen Blick auch dafür schärften, dass der Kapitalismus da draußen nicht faulend und sterbend war, sondern ganz gut funktionierte.

Heute sieht das mancher anders.
Dieser Widerspruch, den ich gerade erwähnte, ändert offensichtlich nichts daran, dass viele Dinge, die wir damals lernten, stimmig sind, dass die Armen immer ärmer, die Reichen immer reicher werden. Heute gucke ich mir das alles mit Interesse an. Aber mich da zu exponieren, ist mein Ding nicht, das sag' ich ganz ehrlich. Ich habe einen Beruf, eine intakte Familie und nur dieses eine Leben.

Haben Sie manchmal Heimweh?
Wir sind ja oft zu Hause. In Neubrandenburg, in Berlin, in Potsdam zum Drachenbootfahren. Und wir wohnen hier im Ort ein bisschen am Berg, und wissen Sie, was das Schönste daran ist?

Nein.
Dass man, wenn das Wetter günstig ist, am Horizont die Küstenlinie von Mecklenburg erkennen kann, also die Heimat.

Das klingt nun doch sehr sentimental.
Soll es nicht. Wir haben hier unser Auskommen gefunden. Nette Kollegen, einen Freundes- und Sportkameradenkreis. Ich lade mit meiner Frau das Boot aufs Auto, und dann paddeln wir die ganze Ecke bis nach Kiel ab. Ist schon okay.


Eine Seite in den »Lübecker Nachrichten«

Kennt man Sie hier in der Gemeinde auch als Olympiasieger?
Ist nicht meine Sache, damit hausieren zu gehen. Aber diesen Sommer brachten die »Lübecker Nachrichten« eine ganze Seite über mich. 30 Jahre nach Montreal. Das muss denen jemand gesteckt haben. Darauf haben mich dann plötzlich viele angesprochen. War ganz witzig, und es hat mir durchaus gut getan.

Und in Neubrandenburg, wo Sie immer noch bekannt wie ein bunter Hund sind, da hatte oder hätte keiner Arbeit für Sie ?
Als da kürzlich jemand fragte, ob man nicht vielleicht doch was für mich tun könne, hab' ich gesagt: Lass mal stecken. Das sähe bloß nach Vetternwirtschaft aus, und möglicherweise nähme ich einem anderen auch noch den Arbeitsplatz weg. Aber wenn wir Rentner sind, hält uns hier vermutlich trotz allem nicht mehr viel.

Warum? Gibt es dafür ein Schlüsselerlebnis aus DDR-Zeiten?
Als ich damals 1976 mit den Goldmedaillen nach Hause kam, habe ich das erste Mal begriffen, wie vielen Menschen ich eine Freude gemacht habe, wie viele stolz darauf waren, Neubrandenburger zu sein. Ich war einer von ihnen, und für sie war ich der, der auch für sie gewonnen hat, den sie kannten, dem sie auf die Schulter klopften. Das war ein riesiges Erlebnis der Zugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit. Und das hält an bis heute.

Gespräch: Michael Müller
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