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Erinnern an die Deportierten

Vor 75 Jahren begannen die »Osttransporte« von Juden aus Berlin in die Vernichtungslager

  • Nada Weigelt
  • Lesedauer: 3 Min.

Es war die Reise in den Tod. Zwischen Herbst 1941 und Anfang 1945 wurden allein aus Berlin mehr als 56 000 Juden in die Ghettos und Konzentrationslager im Osten verschleppt. Die Stadt sollte »judenfrei« werden, wie Gauleiter und NS-Propagandachef Joseph Goebbels es ausdrückte.

Seit 1998 erinnert das Mahnmal »Gleis 17« am Bahnhof Grunewald an die systematische Deportation. Von hier ging am 18. Oktober 1941 der erste »Osttransport« ab, der mehr als tausend jüdische Männer, Frauen und Kinder nach Lodz, ins Ghetto »Litzmannstadt«, brachte. Aus Anlass des 75. Jahrestags soll an diesem Mittwoch eine Gedenkveranstaltung an das faschistische Unrecht und die Opfer des Nazi-Terrors erinnern.

»Alle meine Freunde, meine Klassenkameraden sind deportiert worden. 61 Mitglieder meiner Familie wurden ermordet«, sagt der Zeitzeuge Horst Selbiger (88 Jahre), der die Gedenkrede halten wird. Als Gründungsmitglied des Vereins Child Survivors Deutschland informiert er bis heute in Vorträgen und Diskussionen über die Geschehnisse.

Selbiger erinnert sich, wie damals immer mehr Kinder aus seiner jüdischen Schule verschwanden. Er selbst konnte nur deshalb in Berlin bleiben, weil seine Mutter als »Arierin« galt. Mit 14 wurde er zur Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet. »Wir Kinder waren damals klüger als die Erwachsenen«, sagt er. »Wir wussten, was passiert.«

Den Menschen, die vor 75 Jahren zu dem ersten Transport gehörten, wurde in »Litzmannstadt« ein Leben in Glück und Gastfreundschaft versprochen. Tatsächlich seien sie in einer verwahrlosten Ödnis gelandet, sagt Selbiger und zitiert den Tagebuchschreiber Oskar Singer: »Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt und gelitten haben, wie wir gehungert, und wie wir gestorben sind?«

Auf den ersten Transport folgten 183 weitere, oft nur wenige Tage hintereinander. Anfangs brachten die Züge die Deportierten in Ghettos, bald jedoch fast ausschließlich in die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz. Dafür wurden die Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben, ihres Eigentums beraubt und in Sammellagern zusammengepfercht, ehe sie in einem oft kilometerlangen Fußmarsch zum Abtransport getrieben wurden.

Neben dem Bahnhof im Nobelviertel Grunewald waren später auch der Güterbahnhof Moabit und der Anhalter Bahnhof Abfahrtstellen, wie aus der von den Mahnmal-Architekten herausgegebenen Dokumentation »Gleis 17« hervorgeht. Die Bahn stellte den jüdischen Gemeinden die »Beförderung« in Rechnung - pro gefahrenen Kilometer vier Pfennige für Erwachsene und zwei Pfennige für Kinder.

Nach dem Krieg und der Befreiung dauerte es Jahrzehnte, ehe die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust in den Blickpunkt rückte. Erst eine gemeinsame Initiative des damaligen Bahnchefs Heinz Dürr mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, führte 1998 zur Eröffnung des Denkmals. Die Bahn stellte die Mittel zur Verfügung.

Die Architekten Nikolaus Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wandel verlegten dafür auf einer Länge von 132 Metern beidseits des Gleises gusseiserne Platten. An den so entstandenen »Bahnsteigkanten« ist jeder einzelne Transport mit Datum, der Anzahl der Deportierten und dem Zielort dokumentiert. Der Besucher kann sich so beim Rundgang um das Gleis die Dimension des Verbrechens selbst erschließen.

Längst wuchert Unkraut im Schotterbett, dürre Bäumchen wachsen. Die Vegetation werde unverändert zwischen den Schienen belassen, sagt die Bahn. »Sie ist heute Bestandteil des Mahnmals und steht symbolhaft dafür, dass von diesem Gleis nie wieder ein Zug abfahren wird.« dpa

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