»Es gibt eine große Solidarität«

Nazım Daştan: Bisher wurden in der Region Afrin etwa 300 Zivilisten ermordet und 700 verletzt / Nicht nur das Militär leiste Widerstand

  • Kerem Schamberger
  • Lesedauer: 4 Min.

Afrin scheint von der türkischen Armee und der »Freien Syrischen Armee« so gut wie umzingelt. Wie ist die aktuelle Situation in der Stadt?

Wir befinden uns heute im 53. Tag des Angriffes. Es gibt an verschiedenen Orten Gefechte. Vor allem Vororte und Dörfer um Afrin werden derzeit aus der Luft und vom Boden aus bombardiert. Besonders aus der Shera-Region greift die türkische Armee und radikale Salafisten derzeit an. Sie nähern sich Afrin von dort, es sind noch drei bis vier Kilometer zur Stadt. Auch aus Cindirese, einer Kleinstadt südwestlich von Afrin, rücken sie vor.

Nazım Daştan
Nazim Dastan ist Journalist der Mezopotamien-Nachrichtenagentur und zur Zeit in Afrin.

Welchen Schaden haben die Angriffe verursacht?

Erst wollten sie die Stadt in einer Woche einnehmen, das ist nicht gelungen. Als der Widerstand nicht gebrochen werden konnte, haben sie begonnen vor allem zivile Ansiedlungen ins Visier zu nehmen. Archäologische Stätten, Schulen, Werkstätten, Wohnhäuser wurden angegriffen und zerstört. Manche Dörfer gibt es nicht mehr, sie sind dem Erdboden gleich gemacht worden. Sie haben die Wasserversorgung bombardiert. Seitdem sie den Maydanki-Damm eingenommen haben, ist die Wasserzufuhr in die Stadt unterbrochen. Die Telefonleitungen wurden angegriffen, derzeit kann man nicht mehr telefonieren. Es gibt einen Mangel an Medikamenten und alltäglichen Gebrauchsgütern. Trotzdem werden alle Menschen, deren Dörfer besetzt wurden und die in die Stadt fliehen mussten, von der Selbstverwaltung untergebracht. Die Menschen öffnen ihre Türen, es gibt eine große Solidarität.

Der türkische Präsident Erdogan behauptet, dass es keine zivilen Opfer gäbe? Haben Sie Informationen vor Ort? Waren Sie in den Krankenhäusern und was haben Sie dort gesehen?

Erdogan sagt zwar, dass es keine zivilen Opfer gäbe, aber es können alle internationalen Medien nach Afrin kommen und sie mit eigenen Augen sehen. Das Avrin-Krankenhaus ist voll mit Zivilisten, die bei den Angriffen verletzt wurden und behandelt werden. Die Medikamente werden knapp. Die Zahl der Verletzten und Toten wurde dokumentiert und an internationale Organisationen weitergegeben. Die Aussage, dass es keine zivilen Opfer gegeben hätte, ist also falsch.

Bisher wurden an die 300 Zivilisten ermordet und 700 verletzt. Ich habe es selbst im Mamata-Gebiet gesehen, wo vor allem alevitische Kurden leben. Dort wurde ein Haus getroffen, in dem eine achtköpfige Familie lebte. Nur eine 18-jährige Frau hat überlebt, alle anderen sind gestorben. Ihre Leichen wurden aus dem Trümmern des Hauses gezogen. Dann gibt es noch das Rubar-Flüchtlingslager, in dem Menschen aus ganz Syrien leben. Auch das ist ins Fadenkreuz geraten. Dabei wurde eine 25-köpfige Familie getroffen, nur sieben von ihnen überlebten. Teilweise konnten die Leichen dort bis heute nicht geborgen werden, weil sie immer noch unter den Trümmern liegen und die Bombardements anhalten. Mitarbeiter des kurdischen Roten Halbmondes kommen nicht hin, teilweise wurden sogar auch ihre Einrichtungen bombardiert.

Was können Sie über die Verteidigung der Stadt sagen?

Es gibt Vorbereitungen der Syrisch-Demokratischen Kräfte und der YPG. Aber es sind nicht nur das Militär, das Widerstand leistet. Die Stadt wird von Jugendlichen und Frauen sowie Familien verteidigt. An manchen Fronten bleiben die Mütter und Väter an der Seite ihrer Kinder, wieder anderswo befinden sich drei Geschwister in einer Stellung, um die Angriffe der türkischen Armee und der »Freien Syrischen Armee« abzuwehren. So wie im ländlichen Gebiet Afrins Widerstand geleistet wurde, so wurden auch im Stadtzentrum entsprechende Vorkehrungen getroffen.

Wer trägt für die Menschen vor Ort die Verantwortung für das Morden?

Es gibt einen Aufruf von allen Menschen in Afrin, von allen Völkern, die hier leben, Arabern, Kurden, Turkmenen, Assyrern, Aleviten, Eziden. Denn hier werden nicht nur Kurden ermordet, sondern Menschen jeglicher Herkunft. Es wird hier von einem internationalen Komplott gegen die Selbstverwaltung gesprochen. Die Menschen sagen, dass Russland, die USA, die Europäische Union und die Vereinten Nationen dafür verantwortlich sind. Keine dieser Mächte wendet sich gegen den Angriff. Die Völker Nordsyriens machen diese Kräfte deshalb auch verantwortlich. Warum schweigen sie denn bis heute zu den Morden an Frauen und Kindern hier in Afrin?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal