Eine kräftige Böe Kalter Krieg

NATO-Gipfeldokument bekennt sich zu globaler Stärke und trägt interne Sprengsätze in sich

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle auf dem NATO-Gipfel in Brüssel gefassten Beschlüsse «belegen unsere Eintracht, unsere Solidarität und unsere Stärke», heißt es in der 38-seitigen Gipfelerklärung von Brüssel. Die Worte «Eintracht» und «Solidarität» reizen zum Lachen, das aber beim Begriff «Stärke» im Halse stecken bleibt.

Die 79 aufgeführten Punkte belegen den unbändigen Drang des Bündnisses, seine ohnehin einzigartige strategische Vormachtstellung in der Welt systematisch auszubauen und Widerstände aus dem Weg zu räumen. Der scharfe Ton, in dem das Dokument verfasst ist, kann nicht als Zugeständnis an die rüde Art verstanden werden, mit der US-Präsident Donald Trump beim Gipfel auftritt. Das Dokument war lange vor dessen Rüpeleien fertig.

Bekräftigt wird der strategische «360-Grad-Ansatz» bei der kollektiven Verteidigung, der Bewältigung von Krisen und bei der Gewährleistung kooperativer Sicherheit. Dennoch richtet sich der besondere Blick in Richtung Osten. «Das aggressive Vorgehen Russlands einschließlich der Androhung und Anwendung von Gewalt zu politischen Zwecken» wird als Gefahr für die euro-atlantische Sicherheit und die regelbasierte internationale Ordnung betrachtet.

Es heißt, man sei offen «für einen periodischen, fokussierten und sachorientierten Dialog», doch aus dem Dokument wird deutlich, dass man nicht bereit ist, neue Entspannungslösungen zu initiieren, denn: «Während die NATO zu ihren internationalen Verpflichtungen steht, hat Russland mit den Werten, Grundsätzen und Verpflichtungen gebrochen».

Die Rhetorik erinnert sehr an die Zeiten des Kalten Krieges zwischen der NATO und dem damaligen Warschauer Pakt. Sie wurde nur mit Aktuellem angereichert: Krim-Annektion, Ostukraine, Raketenstationierung bei Kaliningrad. Die NATO wirft Moskau «beträchtliche Investitionen in die Modernisierung seiner strategischen Kräfte» vor, spricht von «Verantwortungslosigkeit und Aggressivität» bei der Nuklearrhetorik, moniert «groß angelegten überraschend angesetzte und unangekündigte Übungen» auch «mit nuklearer Dimension». Nicht vergessen werden «Einmischungen in die Wahlprozesse», «Desinformationskampagnen und böswillige Cyber-Aktivitäten» sowie die Attacke mit Nowitschok-Nervengift im britischen Sallsberry.

Wie erwartet, startete das Bündnis eine neue «4 mal 30»-Initiative, um sicherzustellen, dass der NATO mehr hochwertige, kampffähige nationale Streitkräfte mit hoher Reaktionsfähigkeit zur Verfügung gestellt werden können. Dafür sollen - zusätzlich zu den bereits geschaffenen Einsatztruppen - weitere 30 mittlere oder schwere Kampfbataillone, 30 Staffeln Kampfflugzeug und 30 Kriegsschiffe innerhalb von 30 Tagen oder weniger einsatzbereit sein. Die USA, die diesen Plan ausgearbeitet hatten, wollten den Vollzug bereits im Jahr 2020. Die Jahreszahl findet sich in der Gipfelerklärung jedoch nicht, denn die Initiative überfordert nicht nur Deutschlands Kapazitäten.

Gleiches gilt für die bereits beim Gipfel 2014 in Wales getroffene Vereinbarung, die Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben. Das haben die Staats und Regierungschefs nun bekräftigt. Kanzlerin Angela Merkel kündigte an, dass Deutschland sich auf das Ziel zubewege und jährlich eine Steigerung von 1,5 Prozent seiner Militärausgaben für denkbar hält.

Diese «Säumigkeit» Deutschlands hat dafür gesorgt, dass sich die angestaute Aggressivität des US-Präsidenten Bahn brach. Zum Entsetzen anderer NATO-Partner machte er am Mittwoch Deutschland öffentlich «zur Schnecke» und behaupte, dass Berlin durch milliardenschwere Gasimporte Russland erst richtig stark mache. Sein Verlangen: Deutschland müsse das Zwei-Prozent-Ziel sofort erfüllen, nicht erst 2024. Die - freundlich ausgedrückt - unterschiedliche Sichtweise wurde am Donnerstag noch verstärkt, als Trump aus dem Bauch heraus eine Steigerung der Militärausgaben auf vier Prozent verlangte.

Erinnerungen an den vergangenen Kalten Krieg löst auch der folgende Satz aus: «Unser Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv stützt sich auf eine tragfähige militärische Verstärkung, auch über den Atlantik hinweg.» Deutschland ist dabei das bevorzugte Aufmarschgebiet in Europa. Dafür soll ein neues NATO-Kommando entstehen. Verlangt werden zudem ein «umfassender Ansatz» sowie «nationale Pläne und ressortübergreifender Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Akteure» bereits Friedenszeiten. Es ist nicht bekannt, inwieweit die Berliner Idee diskutiert wurde, dass Deutschland den auch-militärischen Ausbau von Autobahnen, Straßen, Brücken und Schienenwegen in die geforderten zwei Prozent Verteidigungsausgaben einrechnen kann. Auch die deutsch-französische Sicht auf ein Zusammenspiel zwischen NATO und EU wurde nicht besonders gewürdigt. So mystisch wie bedrohlich sind Anmerkungen zum Cyberthema: Man arbeite an Maßnahmen, «mit denen wir dafür sorgen können, dass diejenigen, die uns schaden, dafür zahlen müssen».

Im 360-Grad-Spektrum der NATO sind auch «Instabilität und fortwährende Krisen im Nahen Osten und Nordafrika, die den Nährboden für Terrorismus bereiten und zur »irregulären Migration und zum Menschenschmuggel« beitragen. Einen selbstkritischen Blick auf die Ursachen wagen die NATO-Strategen nicht. Wohl aber beschloss man wie erwartet, eine Trainingsmission in Irak. Die kann zu einem Streit in der Berliner Koalition führen, denn die SPD hat ihr Nein deutlich verkündet. Ob es dabei bleibt?

Beim globalen Rundumschlag kritisiert die NATO die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und hochentwickelter Raketentechnologie. Gelobt dagegen wird das Engagement diverser verbündeter Nichtmitglieder. Gleichzeitig nährt man die Hoffnung weiterer Staaten auf NATO-Mitgliedschaft: Wer kritische Anmerkungen zur inneren Situation im Mitgliedsstaat Türkei sucht, wird enttäuscht.

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