»Es gibt Widerstand gegen autoritäre Tendenzen«

Die Linksintellektuelle López Maya über die Lage in Venezuela

  • Lesedauer: 4 Min.
Margarita López Maya (56) ist eine der wichtigsten Linksintellektuellen Venezuelas. In den letzten Jahren konzentrierte sich die Sozialhistorikerin der Zentraluniversität in Caracas auf die Analyse und kritische Begleitung der von Hugo Chávez angeführten »bolivarianischen Revolution«. Derzeit schreibt sie für die Tageszeitung »Últimas Noticias« und die chavisitische Website www.aporrea.org Kolumnen im 14-Tage-Rhythmus. Mit ihr sprach Gerhard Dilger.
ND: Nach der Schließung des regierungskritischen Fernsehsenders RCTV durch Hugo Chávez ist es in und um Venezuela wieder ruhiger geworden. Was bleibt?
Maya: Die Studentenbewegung. In Venezuela hat sie eine lange Tradition des Kampfes auf der Straße, und jetzt ist sie wieder aufgetaucht. In Lateinamerika werden die Studenten aktiv, wenn es eine politische Krise gibt, die Parteien schwach sind, es in der Gesellschaft brodelt und sich dieses Gefühl nicht politisch ausdrücken kann.

Was ist das für ein Gefühl?
In den letzten Monaten hat sich die Regierung Chávez stark radikalisiert, der Personenkult nimmt zu, es zeigen sich autoritäre Tendenzen. Es gibt klare Anzeichen, dass der Pluralismus, die Unabhängigkeit öffentlicher Instanzen, die Gewaltenteilung abgebaut werden.

Es geht also um mehr als einen Telenovela-Sender?
Ja. Die Schließung von RCTV war der Auslöser für die Proteste von Studenten von privaten und von öffentlichen Universitäten. Sie treten für die Meinungsfreiheit ein, für die Autonomie der Universitäten und für die bürgerlichen Rechte, von denen sie meinen, dass sie beschnitten werden.

Und die Gegendemonstrationen der Pro-Chávez-Studenten?
Venezuela ist eine sehr polarisierte Gesellschaft. Das ist eine ganz natürliche Gegenreaktion, um die Regierung zu unterstützen. Das Beste daran ist, dass so ein neuer Dialog entstanden ist.

Bereut Chávez seinen Schritt vielleicht insgeheim?
Das glaube ich nicht. Er hatte wohl eher eine Konfrontation zwischen Chavistas und Antichavistas mit ihren Medien erwartet, so wie 2002/2003, weniger das Erstarken der Studentenbewegung. Aber offenbar hat er gemerkt, dass er vor einem schwierigeren Problem steht, als er anfangs dachte.

Wie einheitlich ist das chavistische Lager überhaupt?
Über jede Regierungsmaßnahme wird gestritten, aber diese Debatten werden kaum sichtbar. Chávez stigmatisiert oft die, die anderer Meinung sind als er, und deswegen wollen die meisten Chavistas ihre Kritik nicht öffentlich machen.

Hat Chávez noch Kontakt mit Leuten, die abweichende Meinungen äußern?
Sehr tolerant war er noch nie. Allerdings hat er gemerkt, dass er viele Leute nicht so leicht auf seinem Weg mitnehmen kann. Im Dezember und Januar hatte er es noch sehr eilig mit der Verfassungsreform, jetzt hat er sie auf 2008 verschoben. Die Idee von der unendlichen Wiederwahl ist auch bei den Chavistas nicht gut angekommen.

Wie verläuft denn die Gründung der sozialistischen Einheitspartei?
Grauenhaft. Die öffentlichen Angestellten stehen unter großem Druck, Mitglied zu werden, und haben Angst, sonst ihren Job zu verlieren. Chávez will die kleinen Parteien zur Selbstauflösung zwingen. Für die Einschreibungskampagnen werden staatliche Strukturen und öffentliche Gelder geradezu schamlos genutzt. Offenbar soll eine Staatspartei nach dem Vorbild Kubas oder der gescheiterten Sozialismen geformt werden. Das Anliegen der Regierung, ihre fragmentierte Basis zu einigen, war legitim. Aber so hat sie es verspielt.

Gibt es neben der Studentenbewegung denn andere ermutigende politische Entwicklungen?
Auch innerhalb des Chavismo gibt es große Widerstände gegen diese autoritären Tendenzen. Die Regierung hat zwar viel Geld und viel Rückhalt, doch gelaufen ist das alles noch nicht.
Aber den Leuten geht es unter Chávez doch jetzt besser.
Natürlich haben viel mehr Venezolaner Zugang zu Gesundheit und Bildung als früher. Armut und Elend sind deutlich zurückgegangen. Und an der Basis geht es sehr dynamisch zu, dort gründen sich viele neue Organisationen.

Ist der soziale Fortschritt von Dauer, oder bricht er bei sinkenden Ölpreisen wieder weg?
Bis auf Weiteres soll sich ja am Ölpreis wenig ändern. Die Frage ist aber, ob die Regierung auf Dauer so viel ausgeben kann wie derzeit - für steigende Bedürfnisse an der Basis, aber auch für internationale Kooperationsabkommen. Dafür produziert Venezuela zu wenig.

Was ist denn aus der Absicht geworden, die Wirtschaft zu entwickeln und die Abhängigkeit vom Erdöl aufzubrechen?
Nichts. Es gibt im Moment einen Wohlstandsschub, das Land schwimmt im Überfluss. Letztes Jahr machte das Erdöl 89 Prozent unserer Exporte aus, und jeden Monat importieren wir mehr, auch Lebensmittel. Wir sind ein Erdölland geblieben. Bei jedem Boom drehen die Leute durch. Die Inflation steigt, es wird nicht produziert. Das sind die Schwächen, die Venezuela immer geprägt haben, unabhängig von Revolution, Diktatur oder Demokratie. Anscheinend sind die Regierungen nicht in der Lage, das Öl zu zähmen.
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