Clever wie die Erdratte

Cò Tuóng – das vietnamesische Schach

  • René Gralla
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem Pflaster ein Netz aus Linien, Geraden und Diagonalen. An den gegenüberliegenden Stirnseiten des Feldes stehen zwei Männer: Sie rufen Kommandos, im Takt dazu schreiten Mädchen und Jungen, die rote oder gelbe Kostüme tragen, über die Schnittpunkte des Bodenrasters. Zuschauer drängen sich, recken die Hälse, ab und zu geht ein Raunen durch die Menge. Das Dong-Da-Festival auf den gleichnamigen Hügeln bei Hanoi: Hier wird während der Têt-Saison in diesen Tagen an eine Schlacht erinnert, die vietnamesische Verteidiger unter dem Befehl des Königs Quang Trung 1789 gegen chinesische Invasoren gewonnen haben. Höhepunkt ist eine Freiluft-Inszenierung, die wie Theater aussieht, tatsächlich aber Schach ist. Und zwar live in Szene gesetzt von menschlichen Darstellern: nach den Regeln des »Cò Tuóng«, der vietnamesischen Adaption des chinesischen »XiangQi«.

Spiel des Generals
Die asiatische Version des Denksports soll während der Bürgerkriegswirren vor rund 2200 Jahren im Reich der Mitte entstanden sein. Im Gepäck von Händlern und Reisenden wanderte das Spiel Richtung Süden. Heute gilt der Nordimport in Vietnam als Bestandteil des eigenen Kulturerbes. »Vielen Menschen ist gar nicht mehr bewusst, dass ihr geliebtes Cò Tuóng eigentlich eine chinesische Erfindung ist«, sagt Phan Quoc Cuong, ein 56-jähriger Software-Entwickler aus Saigon, der jetzt ein Geschäft in Hamburg führt, wo er Zeitschriften und Geschenkartikel verkauft. Und die fröhliche Vereinnahmung des Cò Tuóng (übersetzt: »Spiel des Generals«) ist gar nicht mal falsch, wie Phan Quoc Cuong im Gespräch mit dem ND resümiert. Schließlich habe seine Nation wahrscheinlich einen wichtigen Beitrag zur Evolution des fernöstlichen Schachs geleistet. Denn zum traditionellen Arsenal von XiangQi und Cò Tuóng gehöre die Figur des »Elefanten«, und diese Tiere seien früher tatsächlich in den vietnamesischen Streitkräften eingesetzt worden, während chinesische Armeen kein Elefantenkorps kannten.

Trampelt folglich erst dank der Vietnamesen der Elefant durch den asiatischen Schachladen? Auf jeden Fall ist das Cò Tuóng ein echter Volkssport zwischen Hanoi und Saigon. Vor allem im Norden des Landes gehört Open-Air-Schach zum festen Bestandteil des Neujahrsprogramms. Aber auch außerhalb der Ferienzeit sind die Vietnamesen für ein schnelles Match immer zu haben, im Park oder auf dem Bürgersteig neben der Straße. Und so verwandelt sich das Cò Tuóng für den ausländischen Besucher in einen Kommunikator: Wer ein tragbares Set, das auf dem Markt für wenige Dong erworben werden kann, in der Suppenküche wie zufällig neben seinen Teller legt, wird zu einer Partie herausgefordert, bevor er noch die Mahlzeit beendet hat.

Fusion mit Innovation
Inzwischen hat ein Fan sogar eine originär vietnamesische Version des ewigen Spiels kreiert. Der Mann heißt Vu Q Vo und nennt das Projekt »Quangtrung Chess«: als Reverenz an jenen Herrscher, der im Jahr, als die Franzosen ihre Revolution machten, den Chinesen eine blutige Lektion erteilte. Dieses Vietnamschach ist eine Fusion aus Cò Tuóng und westlicher Standardausausgabe, wartet zugleich aber mit einer echten Innovation auf: Jede Seite führt zwei Züge in Folge aus, bevor der Gegner drankommt. Zuerst darf, ohne einen feindlichen Stein vom Brett zu nehmen, die Position einer eigenen Einheit nach Wahl verändert werden, anschließend ist das direkte Schlagen erlaubt.

Warum dieser Spielrhythmus im Zweitakt? »Das ist eine realistische Kompenente«, analysiert Cò Tuóng-Experte Phan Quoc Cuong. »Manövrieren Streitkräfte im Feld, agieren sie auch nicht wie beim Ping Pong, mal die einen, mal die anderen, sondern sie führen mehrere Bewegungen gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander aus. Quangtrung Chess versucht das im verkleinerten Maßstab zu simulieren.«

Ob im dynamischen Szenario des Quangtrung Chess oder nach den klassischen Regeln des Cò Tuóng: Das vietnamesische Neujahr ist eine gute Gelegenheit, auf seinen Nachbarn zuzugehen und spielerisch neue Freundschaften zu schließen. Mit Têt hat das Jahr der cleveren »Erdratte« begonnen: Das erste chinesische Tierkreiszeichen steht für Neustart; die ideale Zeit, aus gewohnten Bahnen auszubrechen und sich intellektuellen Herausforderungen zu stellen. Also, ran ans Brett.

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