Ich musste noch keine goldene Uhr verschenken

Oscar Lafontaine über die SPD Willy Brandts, kapitalistische Versuchungen und seine neue politische Heimat in der LINKEN

  • Lesedauer: 10 Min.
Ich musste noch keine goldene Uhr verschenken

ND: Herr Lafontaine, seit Gründung der LINKEN ist nicht einmal so viel Zeit vergangen, wie ein historischer Wimpernschlag braucht, und schon ist sie in vier Landesparlamente im Westen eingerückt. Damit schickt sie sich an, eine gesamtdeutsche Partei, vielleicht sogar eine gesamtdeutsche Volkspartei zu werden. Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?

Oscar Lafontaine: Dass wir so schnell Erfolge haben würden, hätte ich vor zwei Jahren noch nicht gedacht. Aber offenbar wollen immer mehr Menschen, dass die deutsche Politik sich verändert. Die Politik der Großen Koalition ist gekennzeichnet durch Mehrwertsteuerbetrug, Sozialabbau, Rente mit 67 und die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger lehnt diese Politik ab und sieht in der LINKEN eine neue Kraft, die dagegenhält.

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat Ihre Partei im gegnerischen Lager verortet. Ist die SPD für Sie auch eine gegnerische Partei?

Selbstverständlich. Die Parteien konkurrieren um die Wählerinnen und Wähler. Und insofern ist die SPD eine gegnerische Partei wie die anderen Parteien auch. Natürlich, das zeigt Hessen, gibt es im Vergleich zu anderen Parteien insbesondere in der Landespolitik eine größere Überschneidung zwischen SPD-Programmatik und der Programmatik der LINKEN. Nach den Wahlen wäre es daher selbstverständlich, dass alle Beteiligten sich auf der Grundlage ihrer programmatischen Aussagen zusammensetzen und fragen: Wo sind die Schnittmengen, und in welcher Form arbeitet man am besten zusammen? Aber diese Reife haben die mit uns konkurrierenden Parteien derzeit nicht.

Glauben Sie, dass Becks Kurs in der SPD Zukunft hat? Hat die SPD mit diesem Kurs Zukunft?

Beck hat ursprünglich eine Strategie vertreten, die zum Scheitern verurteilt war. Sie hieß: Mit der LINKEN darf man im Osten zusammenarbeiten, im Westen nicht. Es war klar, dass diese Strategie keinen Bestand haben würde. Er hat diesen Fehler jetzt korrigiert. Nun wird man abwarten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Die LINKE bleibt bei ihrer Grundlinie: Wir wollen Politik verändern. Und auf der Grundlage unserer programmatischen Vorstellungen sind wir bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten.

Nun wird Ihrer Partei ja vorgeworfen, sie lebe in Wolkenkuckucksheim: Ihr Programm sei nicht finanzierbar.

Dazu habe ich immer einen Satz parat: Keine einzige Kürzung von Sozialleistungen in Deutschland wäre in den letzten Jahren notwendig gewesen, wenn wir die durchschnittliche Steuer- und Abgabenquote Europas hätten, die bei 40 Prozent liegt. Unsere liegt bei 35 Prozent. Und ich habe jedem Journalisten, jedem Professor und jedem Politiker eine goldene Uhr versprochen, der diesen Satz widerlegt. Bis zum heutigen Tag musste ich noch keine goldene Uhr verschenken. Das heißt, die Einwände unserer Gegner sind bei schlichter Kenntnis der Zahlen falsch.

Die Medien handeln Sie fast unisono als Demagogen, Populisten, Schreihals, Racheengel, Robin Hood, Machtmenschen und Menschenfänger. Wie sehen Sie sich selbst?

Meine Erfahrung im politischen Leben war immer die: Wenn die Medien in dieser Form auf mich eingedroschen haben, hatte ich meist den Finger in eine Wunde gelegt. Anders ausgedrückt: Die Erfolge, die die LINKE hat, machen viele nervös. Eine Selbstbeschreibung fällt mir schwer, so etwas geht oft ins Auge. Es ist besser, man lässt andere über sich urteilen.

Oft wird ja in Frage gestellt, dass Sie überhaupt ein Linker sind. Sind Sie einer?

Was ist links? Ich bin für eine einfache Antwort: Links ist, wenn man im Zweifel auf der Seite der Arbeitnehmer, der Rentner und der sozial Bedürftigen steht. Das tun wir. Und das tue ich.

Verhilft einem der Besuch eines Internats, wie es das Bischöfliche Konvikt in Prüm in der Eifel ist, zu linken Positionen?

Eindeutig ja. Denn die christliche Soziallehre ist für mich ein linkes Programm, im Sinne der vorherigen Definition. Und die Idee der Gleichheit in der abendländischen Entwicklung ist auf das Christentum zurückzuführen.

Gestatten Sie einen Gedankensprung: Können Sie mir etwas über die Züchtung von Bariumtitanat-Einkristallen erzählen?

Das war das Thema meiner Diplomarbeit, die ich 1969 abgab. Es handelt sich dabei um Kristalle, die bestimmte elektrische Eigenschaften besitzen. Man braucht sie als Schaltelemente in technischen Geräten.

Respekt, Sie haben ein gutes Gedächtnis. Können Sie vergessen, wenn Ihnen jemand einmal übel mitgespielt hat?

Das fällt unterschiedlich schwer. Ich versuche zu beherzigen: Wenn man sich zu sehr mit denen beschäftigt, die einem übel mitgespielt haben, vertut man Lebenszeit.

Stichwort 25. April 1990. Denken Sie noch an diesen Tag? Träumen Sie nachts davon?

Das war der Tag des Attentats auf mich. Es liegt jetzt 18 Jahre zurück und ist, glaube ich, weitgehend verarbeitet. In den ersten Jahren hat es mich mehr beschäftigt. Entscheidend für mich war, dass ich danach erkannt habe: Man muss immer so leben, dass man sagen kann, ich habe richtig gelebt. Denn morgen kann das Leben zu Ende sein.

Gelingt Ihnen das?

Was meine eigenen Ansprüche und Maßstäbe angeht: Ja. Für mich ist die Maxime wichtig, dass man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Das ist auch ein Kurzprogramm für die LINKE.

Dennoch, Ihr politisches Leben ist untrennbar – oder nun doch trennbar? – mit der Sozialdemokratie verbunden. 1985 wurden Sie erster sozialdemokratischer Ministerpräsident des Saarlandes, 1990 Kanzlerkandidat, 1995 Parteivorsitzender. Schlägt Ihr Herz in Wahrheit immer noch für die SPD, für die SPD, die sie einmal war? Oder haben Sie in der LINKEN, zu deren Vätern Sie gehören, eine neue politische Heimat gefunden?

Was die SPD angeht, so war die Mitgliedschaft in der SPD für mich immer ein Bekenntnis zu Programmen und politischen Inhalten. Die Partei war kein Verein wie ein Gesangs- oder ein Sportverein, sondern eine Vereinigung zur Erreichung politischer Ziele. Ein Kernziel hat Willy Brandt beschrieben: Frieden. Als er den Friedensnobelpreis erhielt, hat er den Krieg in seiner Rede die »Ultima Irratio« genannt. Die SPD sagt heute wieder, Krieg sei die »Ultima Ratio«. Ich bleibe bei dem Satz Willy Brandts: Krieg ist die Ultima Irratio. Für diesen Satz, für diese Politik schlägt mein Herz immer noch.

Auf der anderen Seite habe ich Anteil an der Gründung der neuen LINKEN. Darin steckt viel Arbeit, viel Herzblut. Die LINKE ist jetzt meine politische Heimat. Sie verändert bereits die deutsche Politik, und das ist uns allen sehr wichtig.

Warum hat sich Ihrer Meinung nach die heutige SPD von der SPD Willy Brandts entfernt?

Die Kernfrage der Linken ist: Inwieweit gelingt es linken Parteien, nicht den Verlockungen und Versuchungen der kapitalistischen Machtstrukturen zu erliegen? Der SPD ist es nicht gelungen. Mit dem Ergebnis, dass führende sozialdemokratische Politiker, sobald sie aus der Politik ausscheiden, bei irgendwelchen Private-equity-Gesellschaften oder großen Gaskonsortien landen. Noch vor einigen Jahrzehnten wäre das unvorstellbar gewesen. Brandt oder Wehner in der Private-equity-Gesellschaft oder einer Zeitarbeitsfirma? Undenkbar!

Warum haben Sie eigentlich 1998 Gerhard Schröder und nicht sich selbst als Kanzlerkandidaten ausgerufen?

Ich wollte eine andere Politik im Sinne des Programms, das wir damals den Wählerinnen und Wählern vorgestellt hatten. Und Schröder hatte eine größere Wählerzustimmung in den Meinungsumfragen. Solche Befragungen spielen in unserer Demokratie eine Rolle. Die Zweifel, die ich im Hinblick auf die Person Schröders hatte, versuchte ich dadurch auszuräumen, dass wir das gemeinsame Wahlprogramm unterzeichneten und vereinbarten, politische Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Diese Absprache hat bekanntlich nicht gehalten.

Wie stehen Sie heute zueinander?

Wir hatten seit dem Bruch 1999 keinen Kontakt. Ich hielt seine Politik für grundfalsch und bin deshalb zurückgetreten.

Warum haben Sie sich das angetan und sind noch einmal zurückgekehrt in die Politik?

Weil ich, als Kind einer Kriegerwitwe, nicht mehr mit ansehen konnte, dass der Sozialabbau in Deutschland immer weitergeht und die Außenpolitik sich so verrennt. Als ehemaligem Ministerpräsidenten und Minister ging es mir persönlich sehr gut. Aber gerade dann hat man auch Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft.

Was ist Ihr Ziel? Wollen Sie beide Parteien, die LINKE und die Sozialdemokratie, irgendwann zusammenführen?

Diese Frage wird oft gestellt. Aber SPD und LINKE sind grundverschieden. Unzweifelhaft ist zur Zeit nur eines: Die deutsche Politik braucht eine linke Partei. Nicht nur die deutsche Politik, sondern alle europäischen Staaten, denn die ehemals sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien sind in den letzten Jahren vom Neoliberalismus vereinnahmt worden. Wenn man eine soziale Erneuerung will, braucht man überall neue linke Parteien. Es kann nicht zusammenwachsen, was nicht zusammengehört.

Sie haben einmal gesagt, die LINKE vertrete heute das Programm der SPD, das 1989 bei den Wählerinnen und Wählern noch große Zustimmung fand. Sie waren damals Leiter der Kommission, welche die als Berliner Programm bekannt gewordenen sozialdemokratischen Grundsätze ausarbeitete. Seit damals sind fast 20 Jahre vergangen. Ist diese Programmatik denn noch zeitgemäß? Müssen sich Programmatiken nicht zwangsläufig verändern?

Ja und nein. Wenn beispielsweise zum Programm gehört, dass Arbeitnehmer und Rentner angemessen am Wohlstandszuwachs beteiligt werden müssen, dann ist das zeitlos. Dasselbe gilt für eine Rentenformel, die Altersarmut vermeidet. Und wenn wir sagen, wir brauchen eine Außenpolitik, die das Völkerrecht beachtet und sich in keinem Fall an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligt, was Grundlage der SPD-Programmatik zu Zeiten Willy Brandts war, dann ist das ebenfalls zeitlos. Es ist manchmal wirklich ärgerlich, wenn solche Grundsätze so behandelt werden, als seien sie nicht mehr modern. So gibt es Programmsätze der LINKEN, die so unveränderlich sind – wie die Garantie des Menschenrechts durch das Grundgesetz.

Aber sicherlich gilt auch der Satz, dass jede Zeit ihre neuen Antworten braucht. Nehmen Sie die Diskussion über den Generalstreik oder den Massenstreik, die die LINKE in Deutschland ausgelöst hat: Solche Positionen wurden in den letzten Jahrzehnten weder in der SPD noch in der SED je vertreten. Und wenn wir heute die ökologische Erneuerung ansprechen und die Rekommunalisierung zum Programmpunkt der LINKEN erhoben haben und mit Erstaunen beobachten, dass andere Parteien das Thema Rekommunalisierung der Energieversorgung aufgreifen, ist das in ganz typischer Weise eine Antwort der heutigen Zeit: Vor 30 oder 40 Jahren war die Energieversorgung ja noch in der kommunalen Verantwortung. Sie ist dann mehr und mehr privatisiert worden. Jetzt sagen wir, dieser Schritt war falsch, wir korrigieren ihn. Und an dieser Stelle wird dann besonders deutlich, wie gedankenlos das Argument ist, man darf nicht vorschlagen, was es vor einigen Jahren schon gab. Demnach dürfte man keine Fehler korrigieren.

Wenn wir bei Richtungsentscheidungen eine Mitgliederbefragung fordern, dann lösen wir uns von der Praxis anderer Parteien. Und wenn wir die Schließung von Hedgefonds und das Verbot von Aktienoptionen fordern, dann finden wir das ebenso wenig in den Programmen früherer Zeiten wie die Reregulierung des Kapitalverkehrs.

Noch einmal zu Ihren Wahlerfolgen. Ihnen persönlich sagt man nach, dass Sie gegen Regierungsbeteiligungen seien. Stimmt das?

Da muss ich immer lachen. Weil ich wahrscheinlich, wenn man die Zeiten addiert, die längste Zeit in Deutschland regiert habe – sofern man meine Zeit als Oberbürgermeister von Saarbrücken mit dazunimmt.

Meine Haltung ist klar: Wenn man in der Regierung die eigene Politik durchsetzen kann, dann muss man sich an der Regierung beteiligen. Wenn nicht, muss man das aus der Opposition heraus versuchen. Wir, die neue LINKE, sind ja gerade ein Beleg dafür, dass man auch als relativ kleine politische Kraft aus der Opposition heraus die Politik verändern kann. »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, sagte einst Viktor Hugo.

Was kommt nach Lafontaine und Bisky?

(Lacht:) Das wüsste ich selbst gerne.

Interview: Christina Matte

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal