Eine Stunde Schach statt Mathe

Uni Trier untersucht Auswirkungen des Spiels auf Schulkinder

  • Lesedauer: 3 Min.
»Du sollst lernen und deine Zeit nicht beim Schach vertrödeln!« Eine Mahnung leistungsbewusster Eltern, wenn sich ihre Kinder für das Spiel begeistern. Dabei ist dies meist unbegründet, wie die Psychologieprofessorin Sigrun-Heide Filipp von der Universität Trier in einer Studie zu den Wirkungen des Schachspiels auf Heranwachsende resümiert. Angeregt wurde die Untersuchung von der Deutschen Schulschachstiftung (DSS). KURT LELLINGER (70), DSS-Ehrenvorsitzender und pensionierter Hauptschulrektor aus Trier, beantwortet Fragen von RENÉ GRALLA zum Forschungsprojekt.
Grundschüler in Trier-Olewig beim »Freilandunterricht«
Grundschüler in Trier-Olewig beim »Freilandunterricht«

ND: Was ist der Anlass für die Trierer Untersuchung gewesen?
Lellinger: Das verheerende Ergebnis der Pisa-Studie von 2002. Als Antwort wurden die rheinland-pfälzischen Schulen verpflichtet, ein Qualitätsverbesserungsprogramm zu erstellen, um die Leistungsfähigkeit ihrer Schüler anzuheben. Daraufhin fasste die Grundschule Trier-Olewig den Beschluss, eine Stunde Mathematik zu streichen und statt dessen eine Stunde Schachunterricht in den Klassen 1 bis 4 einzuführen – und wurde dafür reichlich belohnt.

Über welchen Zeitraum ist die Studie gelaufen?
Vier Jahre sind für die Studie angesetzt worden. Beteiligt waren 120 Schülerinnen und Schüler der Grundschule Trier-Olewig. Die gleiche Zahl Kinder wurde im Rahmen der Kontrolluntersuchungen an der Egbert-Grundschule Trier erfasst. Dieser Langzeitversuch ist allerdings ein Feldversuch und kein Versuch unter Laborbedingungen gewesen, weil es im Untersuchungszeitraum Ab- und Neuzugänge gegeben hat.

Das Ergebnis der Studie?
Bei Vergleichstest in Mathematik, aber auch im Lesen schnitten die Olewig-Schüler doppelt so gut ab wie der Landesdurchschnitt von Rheinland-Pfalz.

Wie erklären Sie diesen Effekt?
Kinder, die sich mit Schach beschäftigen, lernen spielerisch genauer hinzusehen, sonst erkennen sie keine Zusammenhänge auf dem Brett und haben keinen Erfolg. Die Fähigkeit überträgt sich unbewusst auf alle Lernbereiche. Das erklärt, warum in Deutsch gerade Lese- und Sprachverständnis außergewöhnlich stark vom Schach profitieren. Die gängige deutsche Auffassung, dass Schach vor allem für Mathe und Naturwissenschaften von Bedeutung sei, konnte widerlegt bzw. modifiziert und erweitert werden.

Was uns Laien trotzdem überrascht.
Durch Schach sind die Schüler nicht eng auf Mathematik fokussiert, sondern sie steigern erheblich ihr allgemeines Wahrnehmungsvermögen. Schach entwickelt das räumliche, systematische und prinzipielle Denken.

Folglich kommt das auch anderen Fächern zu Gute.
Die Verwandtschaft zwischen Schach und Musik wird hier offenbar. Ein Schüler, der ein Instrument beherrscht, muss die Noten als solche optisch aufnehmen und verstehen und entsprechend in Bewegungen auf dem Instrument umsetzen. Ähnliches geschieht beim Schach: Kraftfelder orten und die Wechselwirkungen zwischen den Figuren analysieren, einen Plan fassen und ihn umsetzen. Gelingt der Plan, entsteht Freude und motiviert zu weiterem Lernen.

Schach soll sogar die soziale Integration fördern, so die Studie.
Kinder und Jugendliche, die sich selbst überlassen werden, entwickeln eher weniger elaborierte Denkstrukturen. Begegnen Kids hingegen zum ersten Mal dem Schach, sind sie fasziniert von der schier unermeslichen Zahl möglicher Züge. Dieser Herausforderung müssen sie sich am Brett stellen und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen, mit deren Konsequenzen sie dann eben auch unmittelbar konfrontiert werden.

Ähnlich wie Trier-Olewig pobiert jetzt die Hamburger Grundschule Genslerstraße »Schach statt Mathe« aus. In einer der fünf Mathestunden pro Woche üben die Kinder Strategie und Taktik mit König, Dame, Läufern.
Björn Lengwenus, der Vater des wunderbaren Lernprogramms »Fritz und Fertig« von ChessBase, hat das Trierer Modell übernommen und neben der Schulaufsicht auch die Schulleitung dieser großen Schule mit 400 Schülern für sein Vorhaben gewinnen können. Schließlich ist es an der Zeit, dass die Erfahrungen der Trierer Studie bundesweit in die Unterrichtspraxis umgesetzt werden.

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