Ran an den Speck

Viele Kinder in Deutschland sind zu dick. Das soll sich ändern. Durch den »In Form«-Aktionsplan der Bundesregierung und durch Projekte wie »Moby Dick« in Berlin

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 7 Min.
Ran an den Speck

Nach einer halben Runde ist Schluss für Nankany-Linda, sie kann nicht mehr. »Nicht stehen bleiben, weiter laufen«, ruft Bernadette Szabo und rudert mit den Armen, als wolle sie das Mädchen von weitem anschieben. Nankany-Linda verzieht das Gesicht, aber sie läuft wieder schneller. Am Ende der Runde schnauft sie und Bernadette Szabo sagt: »Super gemacht.« Andere Kinder laufen eine zweite und eine dritte Runde.

Berliner-Moabit, Poststadion. Gerade haben die Sommerferien begonnen; eine gute Zeit für die Sektion Leichtathletik des Allgemeinen Sport-Vereins (ASV). Man kann den ganzen Tag Sport treiben, umsonst und draußen. Und eine gute Zeit für Nankany-Linda Conde und Nikhil Khurana. Denn jetzt können sie etwas tun gegen ihr Problem. Bernadette Szabo wird ihnen helfen. Sie ist Kinder- und Jugendtrainerin beim ASV.

Beweglichkeit und Selbstwertgefühl

Das Problem, das Nankany-Linda und Nikhil haben, ist deutlich sichtbar. Sie sind zu dick. 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind einer internationalen Studie zufolge übergewichtig. Das Robert-Koch-Institut drückt es plastischer aus: 1,9 Millionen Kinder in Deutschland sind zu schwer, 800 000 sogar adipös, fettleibig. So dick sind Nankany-Linda (10) und Nikhil (11) bei weitem nicht, aber sie tragen einfach zu viele Pfunde mit sich herum. Ihre Eltern wollen, dass sie die loswerden. Und jetzt will das auch die Bundesregierung. Vor kurzem hat sie den Nationalen Aktionsplan Ernährung beschlossen. Er trägt den Titel »In Form«. Stoßrichtung: Aufklärung, Vorsorge, Veränderung der Esskultur in Familien, Schulen und Kantinen, mehr Sport und Bewegung. Damit wird der Fettleibigkeit in Deutschland der Kampf angesagt.

Den Plan hat Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) schon vor anderthalb Jahren vorgestellt, jetzt tritt er endlich in Kraft. Damals waren die Deutschen laut einer internationalen Studie Europameister der Dicken. Drei Viertel aller Männer und 59 Prozent der Frauen haben Übergewicht. Adipositas ist eine globale Epidemie des 21. Jahrhunderts. Das Schlimmste daran: Immer mehr Kinder sind betroffen.

»Hopserlauf«, ruft Bernadette Szabo und macht es vor. Sie hüpft nach vorn und zieht die Knie dabei fast bis an die Brust. Hinter ihr springen die Kinder los, der jüngste Sportler ist vier, der älteste elf. Nankany-Linda und Nikhil fallen zwischen den anderen Mädchen und Jungen nicht auf, obwohl die unübersehbar schlanker sind. Das ist das Grundprinzip der Sportgruppe von Bernadette Szabo: Niemand wird ausgegrenzt, egal, woher er kommt, egal, wie er aussieht, egal, was er kann.

»Es geht um das Miteinander und um die Stärkung des Selbstwertgefühls«, sagt auch Simone Prüfer. Sie arbeitet beim Deutschen Roten Kreuz und koordiniert dort »Moby Dick«, eine Gruppe für übergewichtige Kinder. Es ist eine Art Modellprojekt, Vorbild ist eine Moppelchengruppe aus Hamburg. Das Hamburger Beispiel gibt es schon seit zehn Jahren, aber außerhalb der Hansestadt hat das Problem von Kindern mit Adipositas bis vor kurzem kaum jemanden interessiert. Dabei haben übergewichtige Kinder im Alter von 6 bis 9 Jahren eine Wahrscheinlichkeit von 55 Prozent, dass sie auch übergewichtige Erwachsene werden. Bei Kindern zwischen 10 und 14 beträgt diese Wahrscheinlichkeit sogar 67 Prozent.

Fettsucht ist nicht nur ein gesundheitliches und persönliches Problem, sondern auch ein volkswirtschaftliches. Wer zu dick ist, wird früher oder später dauerhaft krank: Diabetes, Krebs, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Bluthochdruck, Herzinfarkte, Knochen- und Gelenkschmerzen, psychische Störungen. Für die Behandlung von Adipositas geben die Krankenkassen in Deutschland jährlich 530 Millionen Euro aus. Zählt man die sogenannten Co-Morbiditäten dazu – also Begleiterscheinungen wie Rückenprobleme, Atembeschwerden, gehäufte Erkältungen, Knochenhautentzündungen –, dann beläuft sich die Summe auf 5 Milliarden Euro. Das hat das Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen ermittelt. Und die Deutsche Adipositasgesellschaft hat errechnet, dass fünf Prozent aller Gesundheitsausgaben in Industrieländern für die Behandlung von Übergewicht ausgegeben werden.

Simone Prüfer hat ein Jahr lang für »Moby Dick« gekämpft. »Allen war klar, dass eine solche Gruppe notwendig ist, aber es gab keine Erfahrungen, wie die organisiert und finanziert werden kann«, erzählt sie. Jetzt sind verschiedene Krankenkassen mit im Boot, der ASV, das St.-Joseph-Krankenhaus und einige Schulen. Die Schulen schicken die Kinder, bisher acht, im akademischem Lehrkrankenhaus wird geredet und gekocht, beim ASV Sport getrieben. Die Kassen übernehmen einen Großteil der Kosten.

Bei »Moby Dick« geht es nicht nur darum, Kinder zu mehr Bewegung zu animieren, sondern ihr gesamtes Leben umzukrempeln. Dazu gehören vor allem neue Essgewohnheiten. Seit einer Stunde läuft, springt und dreht sich Nikhil. Er atmet schwer. »Er macht viel Sport«, sagt seine Mutter. Fußball, Schwimmen, Basketball, er ist Mitglied in mehreren Vereinen. Die Familie kommt aus Indien und ist seit 15 Jahren in Deutschland, hier besitzt sie ein Restaurant. Gekocht wird gesund. »Nikhil ist keine Couchpotato, er isst einfach nur zu viel«, sagt die Mutter. Er liebt Currywurst und Pizza.

«Das Essverhalten ist häufig das Problem«, erklärt Simone Prüfer: »Da werden Chips vor dem Fernseher hineingeschaufelt, gefuttert wird aus Frust oder Langeweile.« Kindern ist das noch weniger bewusst als Erwachsenen. Bei »Moby Dick« lernen Kinder und Jugendliche, sich beim Essen zu kontrollieren. Sie schauen auf die Ernährungspyramide und auf Kalorientabellen, sie erleben, dass Essen mehr Spaß macht, wenn man es gemeinsam tut, wie man gesund kocht. Angeleitet werden sie von einer Psychologin und von einer Diätassistentin. Einmal in der Woche, ein Jahr lang.

»Jetzt machen wir den Hampelmann«, ruft Bernadette Szabo. »Wie in der Augsburger Puppenkiste.« Sie wirft ihre Beine nach vorn, immer wieder. Das ist anstrengend, aber die Trainerin lacht dabei. Sie stellt es geschickt an, animiert die Kinder zu Übungen, die ihnen Atem und Pfunde rauben, ohne dass sie das merken. Zwischendurch dürfen sie ein paar Meter ruhig gehen.

Der Aktionsplan der Bundesregierung umfasst 50 Seiten; Verbraucherschutzminister Seehofer und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) wollen künftig zehn Millionen Euro jährlich zusätzlich ausgeben, für Sportprogramme und besseres Schul- und Kantinenessen. Bis 2020 sollen sichtbare Ergebnisse vorliegen. Allerdings fehlt in dem Programm ein wichtiger Punkt: die Kennzeichnung von Lebensmitteln, die so genannte Ampel. Rot steht für ungesunde und kalorienreiche Lebensmittel, gelb für halbgesunde und grün für gesunde. Minister Seehofer hat die Ampel mit den Worten abgelehnt, eine Vereinfachung könne auch eine Verdummung sein.

Sowohl Grüne als auch SPD kritisieren, dass die Bürger nicht ausdrücklich vor Dickmachern gewarnt werden. »Die Verbraucher werden von Seehofer zugunsten der Lobbyinteressen der Lebensmittelindustrie im Stich gelassen«, sagt beispielsweise SPD-Gesundheitsfachmann Karl Lauterbach. Und die Deutsche Kinderhilfe bemängelte, dass es weder Werbebeschränkungen gebe, wie im Vorfeld angekündigt, noch konkrete Gesetzesvorhaben. Der Verband fordert Pflichternährungskurse für Eltern und Ernährung als reguläres Schulfach.

Integration, bitte und danke

Vorerst bleibt es also am Verbraucher hängen. Und an den Eltern. Und das ist ein Problem. Übergewicht ist vor allem in sozial schwachen Familien verbreitet und in Familien mit Migrationshintergrund. Wie eine Studie des Berliner Senats vor vier Jahren herausfand, sind 13 Prozent der Erstklässler in der Hauptstadt übergewichtig. Von den deutschen Kindern sind gut 11 Prozent betroffen, bei den türkischen doppelt so viele. Das hat sich bis heute nicht geändert. Der Berliner Sozialatlas, der jährlich erstellt wird, weist für 2007 eine Gewichtsschere zwischen den armen und reichen Bezirken aus. Danach sind im Wedding 21 Prozent der Kinder zu dick und in Kreuzberg und Neukölln jeweils 17 Prozent. Im reichen Bezirk Zehlendorf sind es 8 Prozent.

Bernadette Szabo ist ein Glücksfall für Nikhil und Nankany-Linda. Und Gold wert für Vereine und Organisationen wie den ASV und das DRK. Szabo ist Grundschullehrerin und spricht mehrere Sprachen: Deutsch, Ungarisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch. Die 37-Jährige kommt aus Ungarn, hat einen deutschen Mann, zwei eigene Kinder und drei Pflegekinder. Sie weiß, was es heißt, sich fremd zu fühlen, und sie hat eine Ahnung davon, wie man diesem Gefühl begegnen kann. Die Vokabel Integration gehört zu ihrem täglichem Wortschatz wie bitte und danke. »Manche Kinder laufen nur eine Runde, andere mehr. Ich ordne das einfach an, ohne Begründung«, sagt sie. Den Kindern fällt das nicht auf, sie erfahren eine persönliche Ansprache durch die Trainerin. Manchmal ist es genau das, was ihnen woanders fehlt.

Nankany-Lindas Vater hat seine Tochter auf den Sportplatz gebracht. Sonst macht das immer seine Frau. Die hat Nankany-Linda auch bei »Moby Dick« angemeldet. Der Multimedia-Programmierer weiß, wie wichtig es ist, einen funktionierenden Körper zu haben, er ist selbst Sportler. Vor 15 Jahren kam er mit seiner Frau von der Elfenbeinküste nach Berlin, jetzt hat er wenig Zeit für die Familie. Sonst würde er Nankany-Linda viel öfter mit zu seinen Trainingsstunden nehmen. »Nankany bewegt sich zu wenig«, sagt der Vater. Das soll sich in diesem Sommer ändern. Dafür sorgen Simone Prüfer und Bernadette Szabo.

Kindersport im Berliner Poststadion
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