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Erdrückende Gemeinschaft

Ein israelischer Film im Kino: »Sweet Mud – Im Himmel gefangen«

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Sweet Mud« handelt von einem unauflösbaren Gegensatz, und der beginnt schon im Titel: »sweet« heißt süß, aber »mud« heißt Schlamm, und wie könnte Schlamm wohl je süß sein? Für Autor und Regisseur Dror Shaul waren, glaubt man seinem weitgehend autobiografischen Film, die Jahre seiner Kindheit im südisraelischen Kibbuz Kissufim Jahre voller unauflöslicher Gegensätze, und offensichtlich waren sie eher bitterschwarz als süß.

»Sweet Mud« spielt in einem Kibbuz im südlichen Israel, und er spielt im Sommer 1974. Dvir (Tomer Steinhof) ist 12 Jahre alt und soll später im Jahr seine Bar Mitzvah feiern. Wie alle Kinder des Kibbuz wächst er im Kinderhaus auf und sieht seine Mutter Miri (Ronit Yudkevitch) immer nur stundenweise. Ein Problem für beide, denn Miri hat den Selbstmord von Dvirs Vater nie verwunden, ist psychisch labil und gerät zusehends unter Anpassungsdruck durch die Kibbuz-Gemeinschaft. Deren strenge Regeln, im Jahr 1974 noch nicht durch die mittlerweile auch in Kibbuzim um sich greifende Privatisierung und berufliche Diversifizierung aufgelöst, verlangen eisernen Gruppenzwang im Interesse des zionistischen Kollektivs. Individuelles Ausscheren gilt als Störfaktor im von Ritualen bestimmten Kibbuz-Alltag und wird nicht geduldet – für Dvirs Mutter bedeutet die Missachtung der Verhaltensregeln in letzter Instanz die Einweisung in die Psychiatrie.

Dass Miri einen neuen, noch dazu nicht-jüdischen Freund hat, der gerne außerhalb des Kibbuz mit ihr leben möchte, liefert nur vorübergehend eine Hoffnung auf Besserung: Zwar wird ihm in basisdemokratischer Abstimmung der Kibbuz-Gemeinschaft ein zweiwöchiger Gastaufenthalt gestattet, dann vergrault man den Gast aber doch schnell wieder, wobei Neid und Missgunst auf Miris mögliches individuelles Glück durchaus eine Rolle spielen.

Shauls Film ist seiner Mutter gewidmet, ein von ihr kurz vor ihrem Tod an ihn gerichtetes Gedicht beschließt ihn. Dramatisch sei alles etwas verdichtet und zeitlich zusammengezogen, sagt der Regisseur, aber die Vorkommnisse im Film seien meistenteils wahr. Und ebenso, dass die heutige Kibbuz-Bewegung keine großen Probleme mit dem Film gehabt habe: Die israelische Gesellschaft sei eben älter, weiser und reifer geworden. Auf der Webseite des mitfinanzierenden Israel Film Fund wird die grundlegende Idee von allgemeiner Gleichheit aller Kibbuzniks heute tatsächlich völlig selbstverständlich als »absurd« bezeichnet.

Trotzdem spielt Shaul die politische Seite seines Film gerne herunter: »Sweet Mud« sei gar kein Film über ein Kibbuz, kein Versuch der Aufklärung über die Schattenseiten des Lebens im Kollektiv, sondern ein Film über einen Jungen, der für seine Mutter die Elternrolle übernehmen muss, anstatt selbst beschützt zu werden. Der Ton seiner international vielfach preisgekrönten filmischen Abrechnung straft diese versöhnlichen Worte allerdings nachhaltig Lügen. Und Shaul ist auch nicht der erste, der die Kibbuz-Bewegung kritisch sieht: in Gegenleistung für die Einbringung der eigenen Arbeitskraft zum Aufbau des Landes wurde den Kibbuzniks Liebe, Solidarität und gegenseitige Unterstützung in der ideologischen Großfamilie versprochen. Die Wahrheit sah für viele anders aus: Das Kibbuz-Leben, das Shaul nachstellte, lässt sich nur mit Alkohol und Psychopharmaka ertragen. Oder mit gnädiger Sterbehilfe beenden.

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