Unsichtbare Mauern

Lornas Schweigen von Jean-Pierre und Luc Dardenne

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn Lorna Claudy anblickt, dann wird einem kalt. Sie sieht ihn gar nicht, obwohl er mit ihr in der gleichen Wohnung lebt. Obwohl er ihr Mann ist. Pro forma wenigstens. Und dieses Pro forma hat ihren Blick okkupiert. Es ist der Blick des Bankers auf die Börsenkurse. Soll man jetzt verkaufen oder noch halten? Lorna hat den eisigen Blick derer, die etwas erreichen wollen. Da ist nichts anderes mehr.

Lorna ist eine junge Albanerin und Claudy ist ein Junkie – und Belgier. Nur darum hat sie ihn geheiratet, um an die belgische Staatsbürgerschaft zu kommen. Nein, nur darum ist sie verheiratet worden, von Fabio, der die kriminellen Aktivitäten im Hintergrund steuert. Hat Lorna erst einmal die belgische Staatsbürgerschaft, dann ist das fast unbezahlbar. Er kennt auch schon einen Russen, der wiederum sie sofort heiraten würde, um auch Belgier zu werden. Da gibt es nur ein Problem: Der Russe hat es eilig und Lorna ist schließlich bereits verheiratet. Die Mafiosi drängen, das Geschäft droht zu platzen. Was also tun mit Claudy, dem Junkie? Sich von ihm scheiden lassen oder ihn mit einer Überdosis beseitigen? Lorna ist zu fast allem bereit. Sie weiß, der Westen ist hart und wer nicht untergehen will, darf sich nicht scheuen, über Leichen zu gehen. Schließlich hat sie das Geld fast beisammen, mit dem sie in Lüttich mit ihrem albanischen Freund Sokol (auch einer von Fabios Männern) eine kleine Snack-Bar eröffnen will. Nur dieser eine Deal noch, dann hat sie es geschafft.

Darum blickt sie auf Claudy immer wie durch eine Glasscheibe – bloß nicht schwach werden, keine menschliche Regung zeigen. Aber da passiert etwas Unerwartetes: Claudy versucht ernsthaft, von der Droge wegzukommen. Er versucht es für Lorna. Lässt sich in ein Krankenhaus bringen, bittet, fleht Lorna an, ihm beizustehen. Und da zerspringt irgendwann die Glasscheibe. Zwei, die niemals sie selbst sein durften, klammern sich in ihrer Verlassenheit aneinander. Einen kurzen, alles verändernden Blick lang ist Berührung möglich.

Dann verschwindet Claudy plötzlich. Tod durch Überdosis heißt es. Lorna weiß es besser. Aber sie schweigt, sie hat schließlich auch Ziele, bei denen Claudy störte. Und schließlich war es von Vornherein eine Scheinehe, keine Liebe. Also, wo ist das Problem? Was ist der Mensch und was macht die Gier aus ihm, aus uns allen in der westlichen Welt? Dies ist das nüchterne Protokoll einer Problemlösung in einem kriminellen Milieu. Die Dardenne-Brüder wollen mit »Lornas Schweigen« nichts beschreiben, so sagen sie, sondern es mit der Kamera aufzeichnen. Ein Unterschied, der den Stil prägt.

Niemand weiß mehr, wo dieses kriminelle Milieu anfängt und wo es aufhört. Ungeheuerliches ist passiert, aber man handelt, als wäre es eine normale Transaktion und der Alltag ginge ungestört weiter. Die Dardennes forcieren niemals Aktion, kein Pathos des Leidens zeigt sich, aber auch keine Fluchtmöglichkeiten aus diesem stillen Drama. Man ist frei und alle Auswege sind versperrt. So lebt es sich in der Festung Europa.

Lorna kann nicht vergessen. Doch sie schweigt. Für die Rolle der Lorna fanden die Dardennes Arta Dobroshi, geboren 1979 in Pristina /Kosovo. Sie macht diesen Film zum Ereignis – in dem sie eigentlich nichts macht, sondern nur da ist. Aber mit welch dunkler Intensität sie blickt! Es ist der Blick des Außenseiters, des Fremden. Die Mauern zwischen ihr und dem Land, in dem sie lebt, sind unsichtbar, aber jederzeit fühlbar.

Lornas Schutzpanzer hat durch Claudys Tod Risse bekommen. Der einzige Mensch, der sie je brauchte und nicht bloß missbrauchte! Lorna schweigt, trägt ihr Geheimnis mit sich. Doch sie macht nun Dinge, die im Geschäft nicht vorgesehen sind. Von Claudy glaubt sie schwanger zu sein – und dies Kind will sie behalten. Fabio und ihr Freund Sokol fürchten nun, Lorna könne anfangen zu reden. Sie ist nun selbst zum Unsicherheitsfaktor im Geschäft geworden.

Die Kamera bewegt sich kaum. Die innere Dramatik geht nicht nach außen, sie bleibt innen, bei Lorna. Draußen gibt es keine Hoffnung, nicht für sie. Ein Selbstporträt Europas in seiner Mitte. Aber die Hoffnungslosigkeit selbst hat Schlupflöcher. Noch kann sich Lorna nicht damit abfinden, niemals eine Chance zu haben. Jean-Pierre Dardenne über Lorna: »Für uns ist das ein schönes Schweigen, weil dieses Schweigen etwas hervorbringen wird.«

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