Gewerkschaften fordern Verträge

Die Beschäftigten der Lebenshilfe haben gestern zum ersten Mal die Arbeit niedergelegt

Bei der Lebenshilfe wird gestreikt, das gab es in Berlin noch nie. Vielleicht haben die Beschäftigten einen Helferkomplex und befürchten, dass die Behinderten die Leidtragenden eines Tarifkonfliktes werden, mutmaßt Michael Spuhler von ver.di. Bevor der Gewerkschafter vor 15 Jahren zum Erzieher umgeschulte, hatte er in der Metallverarbeitung als Dreher gearbeitet. Bei der IG Metall seien Lohnforderungen normal, nicht aber bei einer gemeinnützigen Einrichtung wie der Lebenshilfe, wundert er sich.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und ver.di wollen die Lebenshilfe mit dem Warnstreik an den Verhandlungstisch zwingen, weil die Vereinbarung mit dem Betriebsrat vor einer Einigungsstelle aus dem September unbefriedigend sei, sagt Andreas Kraft von der GEW. Das dort beschlossene neue Lohnsystem wollen die Gewerkschaften nicht mittragen. Denn nur Beschäftigte, die ab 2003 eingestellt wurden und ein Fünftel weniger verdienen, sollen maximal neun Prozent mehr Lohn bekommen. »Ab Januar 2009 will die Lebenshilfe 525 000 Euro mehr an Lohnkosten ausgeben«, erklärt GEW-Sprecher Hartmut Lau. Eine »demokratische Unternehmenskultur« sehe jedoch anders aus, meinen die Gewerkschaften.

Die Lebenshilfe war über die gemeinsame Streikankündigung von ver.di und GEW überrascht, berichtet Geschäftsführer Georg Schnitzler. Erst am Mittwoch morgen war die Ankündigung für den Warnstreik in der Neuköllner »Wohnstätte 1« bekannt geworden. »Nur eine Notversorgung mit Aushilfen konnte der Betrieb aufrecht erhalten«, erklärt Schnitzler. Über das Arbeitsgericht versuchte die Geschäftsführung eine einstweilige Verfügung für ein Streikverbot zu erwirken. Dies wurde aber gestern Mittag abgelehnt – eine Versorgung war schließlich gesichert.

Georg Schnitzler fühlt sich als Geschäftsführer einer gemeinnützigen Einrichtung als falscher Adressat für solche Anschuldigungen. »Wir werden attackiert wie die letzten Ausbeuter«, sagt er gegenüber dem ND und zeigt sich jedoch zu Tarifverhandlungen bereit, was für die Gewerkschaften das vornehmliche Ziel der ersten Arbeitsniederlegung ist.

»Alle diensthabenden Beschäftigten der Wohnstätte haben sich am Arbeitskampf beteiligt«, freut sich Gewerkschafter Michael Spuhler und kündigt an: Wenn nun die Reaktion der Lebenshilfe enttäuschend sei, werde der Arbeitskampf ausgeweitet.

Gestern statteten die Streikenden der »Wohnstätte 1« zwei weiteren Einrichtungen der Lebenshilfe in Britz einen Besuch ab, was die Beschäftigten dort zwar verblüffte – aber einer gewerkschaftlichen Aktivität stehen auch sie wohlwollend gegenüber.


Lebenshilfe e.V.

Vor 50 Jahren als gemeinnütziger Verein gegründet, versteht sich als Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung und ihrer Familien. Die Lebenshilfe übt darüber hinaus eine Doppelfunktion aus und ist Dienstleisterin, deren Betriebe als gGmbH organisiert sind.

1970 eröffnete die erste Wohnstätte in Berlin. Heute arbeiten in 13 Einrichtungen, zwei Fördergruppen und weiterer Beratungsstellen etwa 800 Beschäftigte, die in Anlehnung an den öffentlichen Dienst seit fünf Jahren keine Lohnerhöhung bekommen haben. SO

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal