Wie man Bestseller verfilmt

Im Kino: »Anonyma – Eine Frau in Berlin« von Max Färberböck

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Was ist Dokument und was Fiktion? Was hat das Dokument, was die Fiktion nicht hat? Und warum wollen wir das überhaupt wissen? Wenn ein Buch oder Film vorgeben, eine bislang »tabuisierte Wahrheit« zur Sprache zu bringen, dann kommt man um diese Frage nicht herum. Vor allem, wenn es darum geht, über Verbrechen der Roten Armee an den von ihnen befreiten Deutschen zu sprechen, die ja – das sollte man nicht vergessen – bis eben noch ihre Feinde waren, mit denen sie einen Kampf auf Leben und Tod geführt hatten. Oft mit schrecklichen Kriegsbildern im Kopf, mit Hass auf jene Deutschen, die Hitler zugelassen oder ihm meist sogar zugejubelt hatten.

In der DDR war es nicht opportun, über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten zu sprechen: orgiastischer Siegesrausch und Strafaktion in einem. Eine Machtdemonstration des Siegers wohl auch. Und doch war der Fakt nicht unbekannt, in jeder Familie kursierten ähnliche Geschichten über die Art und Weise des Einmarschs der Russen. Ewald Pieck, kommunistischer Stadtrat in Berlin (und Bruder Wilhelm Piecks) hatte im Frühsommer 1945 beim Berliner Stadtkommandanten gegen die Vergewaltigungen durch russische Armeeangehörige protestiert – und fand sich im NKWD-Lager Fünfeichen wieder. Aber auch in Westdeutschland wurde zwar der Fakt benannt und im Kalten Krieg instrumentalisiert – aber die Details wollte man nicht so gern wissen. Schon gar nicht, dass sich viele Frauen aus Not mit russischen Offizieren einließen, die Schutz vor den Mannschaften boten. Eine deutsche Frau verteidigt ihre Ehre bis in den Tod, wird zum Opfer, aber paktiert niemals mit dem Feind. Diese Ideologie stand im Hintergrund, als 1959 anonym »Ein Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945« erschien. Der »Tagesspiegel« zeigte sich damals in einer Kritik befremdet und die potenziellen Leser machten einen Bogen um das Buch. Solche Erinnerungen passten nicht ins Wirtschaftswunder.

Als das Buch 2003 wieder aufgelegt wurde, war das anders. Wochenlang stand es auf der Bestsellerliste – und nun hat es Max Färberböck sehr aufwendig verfilmt. Und doch kommen wir von der Frage, wer diese »Anonyma« denn sei, so schnell nicht los. Jens Bisky hat es in der »Süddeutschen Zeitung« herausgefunden: Vermutlich ist es Marta Hiller, Journalistin und Nazi-Mitläuferin, die für den »Berliner Lokal-Anzeiger« arbeitete und auch ab Herbst 1945 wieder Lokaljournalismus betrieb. Hat sie das Buch selbst geschrieben? Anders gefragt: Durfte sie als Autorin überhaupt auftreten oder wurde ihre Geschichte bloß ausgebeutet? Der Filmverleih sagt es salomonisch: Unter »Anleitung ihres Mentors Kurt W. Marek« habe sie das Buch 1954 erstmals in englischer Sprache veröffentlicht. Genannt werden wollte sie nicht, weil man als Vergewaltigungsopfer nun mal nicht genannt werden will. Klingt kaum überzeugend, zumal dann, wenn man weiß, dass die Witwe Mareks heute die Rechte an dem Buch besitzt. Dieser Marek ist ein Sachbuchautor speziellen Zuschnitts: ein Popularisierer. 1941 schrieb er »Wir hielten Narvik« (!) und nach dem Krieg unter dem englischen Pseudonym C.W. Ceram den millionenschweren Bestseller »Götter, Gräber und Gelehrte«. Das ist einer, der weiß, was der Markt will. Und genauso wirkt das Buch der »Anonyma«: routiniert den Schauer dosierend, niemals zu abstoßend, ständig den Leser im Blick behaltend. Und vor allem, keine namentlich genannte Autorin – denn jede Leserin soll sich in dem Buch wiedererkennen. »Anonyma«, das regt die Fantasie an.

Ja, einiges an Berliner Alltag im Mai 1945 wird sichtbar. Aber wenn man etwa die Briefe Gottfried Benns an seinen Freund Oelze liest, dann weiß man wenigstens, die sind echt. Wenn das Finanzamt noch im April 1945 eine Mahnung schickt, oder seine Frau, die aus Berlin vor der anrückenden Roten Armee flüchtet, von der Front überrollt, sich in einem kleinen Ort an der Elbe schließlich das Leben nimmt. Das sind Dokumente, »Anonymas« Tagebücher aber sind zumindest bearbeitete Dokumente. Oder wer will glauben, dass am 13. Mai 1945 jemand solche 50er-Jahre-Betrachtungen niederschrieb, wie diese: »In Moskau möchte ich nicht leben. Was mich dort am meisten bedrückte, war die pausenlose ideologische Schulung; sodann die Unmöglichkeit für Eingeborene, frei in der weiten Welt herumzureisen; und schließlich das Fehlen jeden erotischen Fluidums. Das Regime dort liegt mir nicht. In Paris oder London hingegen war ich gern.«

Das Lieblingswort der »Anonyma« ist »stramm«: »Wieder ein strammer Arbeitstag.« So liest man in fast jedem der Kapitel. Nein, präzise beobachtet ist nicht, was sich hier findet. Persönlich auch nicht. Die Art und Weise der Schilderung lässt eher kalt, denn sprachlich bleibt hier alles Kolportage – unverständlich, warum man das Buch 2003 so feierte. Vielleicht nur des schockierenden Themas wegen, das sich hier bereits beginnt, ins Spektakuläre zu wenden? Die Charakterisierungen der nun auch in Berlin-Tempelhof allgegenwärtigen Russen bleiben allgemein: »Immer Extreme. ›Frau komm!‹ und Exkremente im Zimmer; oder Zartheit und Verbeugungen.« Ohne die Liaison Anonymas mit einem russischen Major wäre das Buch auch im Adenauer-Deutschland unweigerlich ein Erfolg geworden – aber bei diesem Passus verspekulierte sich Marek/Ceram (immerhin verkaufte man in den USA eine halbe Million Exemplare).

Und nun also dient jenes Produkt als Vorlage eines Films. Ist das erfolgversprechend? Für die Kinokasse vielleicht. Ansonsten vollständig überflüssig, sogar ärgerlich. Denn hier wird das, was doch höchst individuelles Protokoll sein sollte, auf Hochglanz poliert. Vergessene Schicksale im Breitwandformat und von der üblichen Spielfilmdramaturgie verschluckt – und so gleich noch einmal missachtet. Man gerät eben unweigerlich in ein missliche Lage, wenn man vorgibt, dokumentarisch zu sein (schwierig bei dieser Vorlage!) und gleichzeitig großes Kino machen zu wollen. Die hier versammelten Frauen eines Berliner Hauses wirken wie aus einer Vorabendserie. Und dabei, welch wunderbare Schauspielerinnen! Alle wären sie in der Lage gewesen, widersprüchliche, beschädigte Charaktere zu spielen. Dieses Thema ist eines der Nuance – aber Max Färberböcks Regie setzt auf grobe Effekte (die vorgehaltene Maschinenpistole). Was Kammerspiel der Gewalt auf engstem Raum hätte sein sollen, wird zum Aktionskino. Nina Hoss als Anonyma versucht kühl zu bleiben und dabei trotzdem ausdrucksvoll. Aber die Szenerie lässt es nicht zu. Eine halbe Liebesgeschichte mit dem russischen Major, der sie schützen soll, bleibt ebenso unglaubwürdig wie die Tatsache, dass der einzige »gute Russe« (im Juni 45!) nach Sibirien muss. Das widerstreitende Gefühl, besiegt und befreit zugleich zu sein – es wird hier nirgends nachvollziehbar. Hässliche Details erspart man uns, dies ist schließlich ein Produkt, das verkauft werden soll. Schade um Ulrike Krumbiegel, Irm Hermann, Juliane Köhler und die anderen Schauspieler.

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