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Schach – zwischen Mathematik und Flow-Erlebnis

ND-Interview mit Prof. Christian Hesse, der den Eröffnungsvortrag beim Workshop der Schacholympiade hielt

  • Lesedauer: 4 Min.
CHRISTIAN HESSE (Foto: privat) hat an der Harvard Universität promoviert und war bis 1991 Fakultätsmitglied der University of California in Berkeley. Seitdem ist er Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. Der 48-jährige Wissenschaftler veröffentlichte vor zwei Jahren das Buch »Expeditionen in die Schachwelt«. Im vergangenen Februar wurde er zum Botschafter der Schacholympiade ernannt. Beim Workshop »Schach und Mathematik« im Rahmenprogramm der Olympiade in Dresden hielt Christian Hesse gestern den Eröffnungsvortrag. ND-Autor DAGOBERT KOHLMEYER sprach davor mit ihm.

ND: Herr Hesse, wie eng ist der Zusammenhang von Mathematik und Schach?
Hesse: Zwischen ihnen gibt es sehr viele Beziehungen. In beiden Disziplinen geht es um logisches Denken, Strukturen und Muster. Mathematik wird ja häufig als die Wissenschaft von den Mustern bezeichnet. In der Wahrscheinlichkeitstheorie geht es zum Beispiel um Muster in Zufallsprozessen.

Liegt nicht jedem Zufall auch eine Gesetzmäßigkeit zugrunde?
Ja, auch Zufallsprozesse sind nicht chaotisch und regellos. Auch der Zufall hat seine mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Das Gesetz der großen Zahlen ist im Grunde so ein mathematisches Theorem, das schon Eingang in die Alltagssprache gefunden hat.

Mathematik ist für viele Normalbürger aber sehr trocken.
Mein Buch »Das kleine Einmaleins des klaren Denkens«, das in Kürze erscheint, hat gerade die erklärte Absicht, den Leser mindestens zweifach zu ermuntern: eine Einladung zum Abenteuer des Klügerwerdens anzunehmen und die Schönheit des Denkens beim Lösen von Problemen auszukosten. Es geht mir darum, Denkwerkzeuge herauszuarbeiten, quasi als Intelligenzverstärker. Zum Beispiel das Widerspruchsprinzip. Daneben enthält das Buch mathematische Paradoxien, Geschichten, Aphorismen, Zaubertricks und eine Dosis Humor.

Wie funktioniert das Widerspruchsprinzip?
Wenn man eine Aussage beweisen will, dann kann man einmal das genaue Gegenteil dieser Aussage als wahr annehmen und von da aus versuchen, folgerichtig weiter zu schließen. Mit korrekten logischen Schlüssen. Bis man in einen Widerspruch hineinläuft. Dies bedeutet dann, dass das Gegenteil der Aussage eben nicht richtig sein kann, sondern die Aussage selbst richtig sein muss.

Sprechen wir vom Schach und den vermeintlichen Genies: Großmeister Wassili Iwantschuk schaut während der Partie mehr an die Decke als aufs Brett. Er braucht nicht hinzusehen, weil er alle Stellungen im Kopf hat.

Das ist sicher eine hoch spezialisierte Form von Begabung, die natürlich wunderbar ist, wenn sie noch mit anderen Begabungen einhergeht. Es gibt jedoch häufig den Fall, dass Leute nur auf eine Sache fixiert sind und nebenan für sie nichts mehr existiert.

Wie der zerstreute Professor, der nicht über die Straße findet…
Er ist nicht zerstreut, sondern im Grunde nur auf sein Fach fixiert. Der Mann ist ganz tief in seinen Geist versunken und vergisst alles drum herum. Ein Zustand, den der ungarische Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi als Flow-Erlebnis bezeichnet. Also eine Art Trance, in der man alles vergisst. Und er hat auch gesagt, dass Schach eine Möglichkeit ist, in diesen Rausch zu kommen. Das merkte er im Krieg, als er nur beim Schach alles Bedrohliche vergessen konnte.

Für Schachspieler kann der ständige Aufenthalt in ihrem Mikrokosmos aber auch zu einer Droge werden, von der sie nie mehr loskommen.
Ich glaube auch, wenn man die Fähigkeit hat, dass die Analysiermaschine stets im Kopf mitläuft, dann kann Erholung manchmal ein wirkliches Problem sein.

Weil der Schachspieler selten oder niemals abschaltet?
So ist es. Ich hatte mit Wladimir Kramnik vor einigen Jahren in Moskau ein sehr interessantes Gespräch. Der damalige Weltmeister sagte mir genau das: Ganz egal, was er auch tut, ob beim Telefonieren oder bei anderen Tätigkeiten, er kann diese Analysiermaschine im Kopf mitlaufen lassen und behält beim Reden die Schachstellungen im Kopf. Das ist auf der einen Seite natürlich eine zu bewundernde Fähigkeit, kann jedoch andererseits auch zum Durchbrennen der Sicherungen führen.

Sie sind Gastredner beim Workshop anläßlich der gegenwärtigen Schacholympiade in Dresden. Was bieten Sie in Ihrem Eröffnungsvortrag?
Bei diesem Workshop, den Professor Hans-Görg Roos von der TU Dresden organisiert hat, spreche ich zum Thema Schach und Mathematik. Dort werde ich unter anderem etwas über die Geometrie des Schachbretts sagen. Auch darüber, wie man Schachprobleme mit mathematischen Methoden lösen kann. Es gibt da eine ganz ausgefeilte Theorie. Sie läuft unter dem Begriff kombinatorische Spieltheorie.

Was für eine Methode liegt denn Retis berühmter Studie zugrunde, wo der schwarze Freibauer vom weißen König noch auf wundersame Weise eingeholt wird?
Das ist ein Beispiel für Triangulierung. Es hat damit zu tun, dass auf dem Schachbrett der Weg entlang zweier Schrägen genauso lang sein kann wie die Weglänge entlang einer Geraden. So erfordert etwa der Weg eines Königs von h8 über e5 nach h2 genau wie der gerade Weg auf der h-Linie herunter nur sechs Schritte.

Müssen Schachspieler gute Mathematiker sein oder umgekehrt?
Nicht unbedingt. Ich habe zum Beispiel gar keine ELO-Zahl, weil ich keine Turniere spiele. Meine Schachspiel-Aktivitäten beschränken sich auf ein paar Fernpartien mit Freunden. Wir setzen dabei keine Computer ein und haben auch keine Zeitbegrenzung. Manchmal kann die Antwort auf einen Zug mehrere Wochen dauern, je nachdem, wie ich gerade beruflich eingespannt bin. Wir kämpfen sehr hart und sind mit Leidenschaft bei der Sache, aber unsere Schachfähigkeiten halten sich eher in Grenzen. Meine Fähigkeiten in der Mathematik sind jedoch höher entwickelt als die im Schach.

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