Der Mann neben Dutschke

Diverse Publikationen erinnern an den antiautoritären Cheftheoretiker des SDS, Hans-Jürgen Krahl

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Verlag Neue Kritik hat die einst sehr bekannte Textsammlung »Konstitution und Klassenkampf« von Hans-Jürgen Krahl wiederaufgelegt, der neben Rudi Dutschke der wichtigste Sprecher der antiautoritären Studentenbewegung war. 1971 wurde dieses schwergewichtige Buch mit Vorträgen, Reden und Aufsätzen Krahls von Weggefährten und SDS-Genossen herausgegeben. 14 000 Mal verkaufte es sich damals. Der 1943 in der Nähe von Hannover geborene Krahl war 1970 bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er hinterließ einen Koffer mit etlichen Manuskripten, die für die rasche Veröffentlichung nur unzureichend redigiert wurden. In der neuesten fünften Auflage wurden nun einige Fehler der ersten Ausgaben behoben.

Krahl versuchte, die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers im Hegelschen Sinne aufzuheben. Seines Erachtens spielten darin Antagonismus und Klassenkampf eine zu untergeordnete Rolle. Das Anliegen Krahls war es hingegen, einen Klassenbegriff auf der Höhe der Zeit zu entfalten, ohne sich an der 20er-Jahre-Reminiszenz zu beteiligen, die sich in den marxistisch-leninistischen K-Gruppen ab 1969 breit machte. Krahl steht für die Ernsthaftigkeit der 68er-Revolte, die Revolution werden wollte und nicht konnte. Die jüngeren 68-Begeisterten versenken sich deshalb lieber in seine sperrigen Texte, als dass sie Rainer Langhans' Ausführungen über ihre Selbstverwirklichung lauschen.

Der Verlag Neue Kritik ist nicht der einzige, der den vergessenen Theoretiker der 68er Revolte derzeit wieder ausgräbt. Das Hans-Jürgen-Krahl-Institut aus Stoltebüll knüpfte jüngst an dessen Überlegungen mit einer Broschüre namens »Praktischer Sozialismus. Antworten auf die Krise der Gewerkschaften« an. Als Schwäche der bisherigen Arbeitskämpfe und der Gewerkschaftsbewegung wird hervorgehoben, dass sie bislang das »gemeinsame Interesse von Kapitalist und Arbeiter am Erhalt des Unternehmens« nicht zu sprengen vermochten. Diese Kraft sehen die Autoren in dem Mittel des Streiks, weil sich in ihm »die Streikenden als Subjekte zueinander verhalten und so praktisch ihre Verdinglichung aufheben«.

Für das Leben Krahls interessiert sich der Historiker Gerd Koenen in der Zeitschrift für Ideengeschichte vom Herbst 2008. Unter der Überschrift »Der transzendentale Obdachlose« fördert er einiges Interessantes zu Tage, wie frühe Schreibversuche des 17-jährigen Krahl aus den Jahren 1960/61. Darin wird seine zunächst rechte Sozialisation deutlich, die er sehr jung im völkischen Ludendorffbund durchlief. Koenen ist es hoch anzurechnen, dass er mit diesem Wissen um Krahls Biografie keine ewige deutsch-völkische Kontinuitätslinie schustert, eine solche vielmehr explizit und in Abgrenzung zu Götz Alys Thesen ablehnt. Etwas unangenehm mutet an, dass Koenen Krahl in seinem Aufsatz pejorativ als Alkoholiker, »unentwegt seine lüttjen Lagen aus Bier und Doppelkorn« trinkend darstellt. Zudem neigt er dazu, dessen theoretische Anstrengungen zu psychologisieren. So schreibt er, dass Krahl »alle seine Unglücks- und Verunsicherungsgefühle in den Mantel einer welt- und kulturgeschichtlichen Großdiagnose fasste«. Das mag man glauben oder nicht – bei welchem großen Theoretiker könnte man so etwas ausschließen?

Heutzutage zeigt sich Gerd Koenen gerne als abgeklärter Historiker der 68er Revolte, der er einen »eigentümlichen Wahn« attestiert. Pikant ist daran schon, dass er sich selbst in den frühen 70er Jahren der K-Gruppe Kommunistischer Bund Westdeutschlands (KBW) angeschlossen hatte. Als hauptberuflicher Funktionär arbeitete er maßgeblich daran mit, dass nach dem Zerfall der antiautoritären Revolte Zirkel und Bünde leninistisch-maoistischer Provenienz entstanden, die all das, wofür Krahl stand, ins autoritäre Gegenteil verkehrten.

Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik, 440 S., 25 EUR. Hans-Jürgen-Krahl-Institut e.V.: Praktischer Sozialismus, Pahl-Rugenstein Verlag, 44 S., 4,90 EUR. Gerd Koenen: Der transzendentale Obdachlose, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft 11/3, 12 EUR.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal