• 7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

Mit Trabi und Ostpaket zu den Verwandten

  • Sigrid Armbruster, 08529 Plauen
  • Lesedauer: 4 Min.

Da meine Mutter in Lindau am Bodensee beheimatet war, aber schon vor dem Krieg zu ihrem Bruder nach Plauen kam, um in Geschäft und Haushalt zu helfen, lernte sie hier ihren späteren Mann kennen und blieb fern der Heimat bis zu ihrem Tode in dieser Stadt. Dadurch war fast meine gesamte Verwandtschaft im Westen, zu der ich seit 1956 anlässlich einer Trauerfeier in Lindau nie wieder persönlichen Kontakt hatte.

Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass ich bis zur Erreichung des Rentenalters im Jahre 1998 warten muss, um alle einmal wiederzusehen. Meine Heimat zu verlassen per Flucht oder Ausreise kam nie infrage, aber das Gefühl, eingesperrt zu sein, hatte mich oft traurig gestimmt. Mehrmals hatte ich versucht, Verwandte zu uns einzuladen, aber bis auf die beiden Cousinen, die ihre Kindheit in Plauen verbracht hatten, ist nie-mand gekommen.

1989 ereignete sich auch in Plauen sehr viel. Friedensgebete in der Kirche, Kerzen, jeden Samstag Demos. Die vollen Züge mit den aus Prag ausgereisten Flüchtlingen fuhren durch Plauen, wobei der Bahnhof und die Bahnstrecke durch die Polizei abgesichert wurden.

Im August 1989 heiratete unser Sohn. Wir luden dazu auch meine Cousine mit Mann, Sohn, Schwieger- und Enkeltochter ein, und sie waren zwei Tage lang bei uns zu Gast. Außer meiner Cousine waren uns die anderen fremd, und dennoch waren wir schnell so vertraut, als hätten wir uns schon lange gekannt. Nun kam unserseits verstärkt der Wunsch nach einem Gegenbesuch auf, aber wie hätte er ohne einen triftigen Grund – wie beispielsweise einen Todesfall – bewerkstelligt werden sollen?

Am 1. September begann ein neues Schuljahr – für mich das 30. Dienstjahr. Es begann wie immer mit zu viel Arbeit: Klassenbuch, Klassenleiterplan, Stoffverteilungspläne, Vorbereitung und Durchführung der FDJ-Gruppenratswahl, Elternaktivwahl, Verbindung zur Patenbrigade, Ernteeinsätze. Der 7. Oktober und damit der 40. Jahrestag der DDR standen unmittelbar bevor. Dass das brisant werden würde, lag in der Luft. Am 6. Oktober durften wir nicht auf den Sportplatz, da dieser als Hubschrauberlandeplatz vorgesehen war. Tags darauf kam es auch in Plauen zu einer großen Demo, die zwar friedlich verlief und der trotzdem im Stadtzentrum mit dem Einsatz von Wasserwerfern begegnet wurde. Am über-nächsten Tag war die erste Unterrichtsstunde dem Klassenleiter vorbehalten, um eine politisch-ideologische Diskussion zu führen. Eine Schülerin, die zu den Feierlichkeiten nach Berlin delegiert gewesen war und die Demo in Plauen boten reichlich Stoff dafür und gaben der Empörung über Wasserwerfer sogar gegen Frauen mit Kinderwagen Ausdruck, aber auch ein wenig Schadenfreude, weil es auch den Schuldirektor mit erwischt hatte.

Am 4. November beging meine Mutter ihren 80. Geburtstag, zu dem wieder zwei Cousinen aus dem Westen zu Besuch kamen. Als wir nach dem gemeinsamen Mittagessen die Gaststätte verließen, wurden wir Zeugen einer machtvollen, friedlichen Demo, an der wir auch teilgenommen hätten, wenn nicht die Feier gewesen wäre.

Im November war mein Mann auf einer Dienstreise. Allein zu Hause verfolgte ich im Fernsehen die Grenzöffnung und konnte kaum begreifen, wie dies so schnell geschah. (...) Im Dezember riefen uns die zur Hochzeit unseres Sohnes eingeladenen Verwandten an und sagten, dass alle in ihrem Ort schon Besuch aus dem Osten bekommen hätten, nur sie noch nicht, und wir sollten doch kommen. Also machten wir uns mit unserem Trabbi und einem großen Ostpaket als Gegenleistung für die jährlichen Westpakete auf den Weg. Welch eine Aufmerksamkeit wurde uns auf der Autobahn zuteil! Mercedes-Fahrer winkten uns zu; auf einem Parkplatz fragte eine Holländerin: »Ist das ein Trabant? Sind Sie geflüchtet – über Ungarn?«

Bei unseren Verwandten angekommen, wollten natürlich auch einige mal mit dem Trabant fahren – im Gegenzug musste sich mein Mann ans Steuer eines Westautos setzen. Ein großes Cousinen- und Cousintreffen wurde organisiert. Das neue Jahr wurde euphorisch und freudvoll mit Tränen begrüßt, aber ich spürte auch eine gewisse Befangenheit und Angst vor dem, was die Zukunft bringen würde. Am 2. Januar machten wir uns mit dem bis unters Dach mit Geschenken vollgepackten Trabbi auf die Heimreise, auf den Serpentinen des Schwarzwaldes eine lange Autoschlange hinter uns herziehend, ohne dass sich jemand über das stinkende, schnaufende Auto empört hätte.

Mein Wunsch, die alte Heimat meiner Mutter zu besuchen, ist damit neun Jahre früher als erwartet in Erfüllung gegangen. Ich hatte mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt, dass aus den beiden deutschen Staaten mit ihrer unterschiedlichen Entwicklung jemals wieder ein vereintes Land würde. Wenn es auch noch lange zu dauern scheint, bis die Einheit wirklich vollzogen ist, war es doch ein grandioses Ereignis, und es macht mich glücklich, es erlebt zu haben.

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