Armut ist erblich geworden

Fast jedes dritte Kind im Nordosten lebt am Rande der Gesellschaft

  • Velten Schäfer, Schwerin
  • Lesedauer: 2 Min.
Kinderarmut ist ein Massenphänomen in Mecklenburg-Vorpommern. 56 000 Einwohner unter 15 Jahren sind betroffen. Eine Studie warnt jetzt vor der Verfestigung sozialer Probleme in Armutsmilieus.

Zwanzig Jahre nach der Wende ist auch in Ostdeutschland ein Phänomen zu beobachten, das Soziologen aus dem alten Bundesgebiet seit langem bekannt ist: Armut entwickelt sich zu einer Milieufrage und kann insofern »erblich« werden. Ungefähr die Hälfte derer, die nach dem Ende der DDR materiell an den Rand gedrückt wurden oder gar nicht erst Fuß fassen konnten, haben auch gesellschaftlich den Anschluss verloren. Sie haben Probleme wie »Bildungsferne«, Verschuldung, mitunter auch Suchtkrankheiten – und geben diese Randständigkeit unwillkürlich an ihre Kinder weiter.

Zuordnung nach Herkunft

Wer in solchen Verhältnissen aufwächst, erklärt Martin Müller vom Institut Holon aus Königs-Wusterhausen in Schwerin, hat nicht nur objektiv schlechtere Lebenschancen, sondern wird zudem stigmatisiert. Viele Kinder aus dem Randmilieu besuchten Förderschulen. Doch bei der »Einordnung« in die Schultypen, die für die Zukunft eines Kindes entscheindend sein kann, »spielen auch Vorurteile eine Rolle«. Hinzu komme die Ausdünnung kostengünstiger kultureller Angebote oder Hilfsstellen. Oft verstellt schon der Fahrpreis den Weg in die Bibliothek, Hilfen wie Kurse gegen Lese- und Schreibschwächen würden um so öfter abgebrochen, je weiter der Anfahrtsweg sei.

In Mecklenburg-Vorpommern habe sich Kinderarmut längst zu einem Massenphänomen entwickelt, ruft Linkspartei-Fraktionschef Wolfgang Methling in Erinnerung. 56 000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren seien betroffen, nahezu 32 Prozent. Dennoch werde das Problem noch immer als »Randthema« abgetan, »ein politischer Skandal«. Neben einer Alg-II-Erhöhung, der Schaffung eines kindgerechten Satzes und einem gesetzlichen Mindestlohn sei vor allem ein gesellschaftliches Umdenken nötig: Nur in einem Klima, das Armut nicht als selbstverschuldet ansehe, sei nachhaltige Armutsbekämpfung möglich.

Integration nach Kassenlage

Gabi Me'stan, Kommunalexpertin der Linkspartei im Nordosten, unterstreicht vor diesem Hintergrund die Wichtigkeit von Bibliotheken oder Sportangeboten. Doch gerade diese könnten bald in Gefahr geraten. Kulturelle Angebote gehören zu den »freiwilligen Leistungen« und fallen bei Budgetproblemen zuerst dem Rotstift zum Opfer. Die kommunalen Haushalte im Nordosten sind angespannt – und könnten im Zuge der Wirtschaftskrise noch schmaler werden.

Die Landesregierung, die »kindgerechte« Politik auf ihre Fahnen geschrieben hat, lässt die Kinderarmut nun erstmal selbst untersuchen. Vergangene Woche beauftragte Sozialministerin Manuela Schwesig (SPD) die Prognos AG aus Basel mit einer repräsentativen Studie. So könne man vorhandene Kenntnisse auf eine solide Basis stellen, hieß es.

Die gestern vorgestellte Holon-Untersuchung, die das Kommunalpolitische Forum der Linkspartei in Auftrag gegeben hatte, ist demgegenüber qualitativ angelegt: Es wurden intensive Interviews mit einer relativ geringen Zahl von Betroffenen und Experten geführt.

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