Sozialismus ist konsequente Demokratie

Das unmögliche Interview: Willy Brandt (SPD) erinnert in einem fiktiven Gespräch seine Partei an ein Programm ...

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1970, Erfurt: Thüringer jubeln stellvertrend für viele DDR-Bürger
1970, Erfurt: Thüringer jubeln stellvertrend für viele DDR-Bürger

ND: Der Parteivorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, hat jüngst auf dem Parteitag der Liberalen gesagt: »Es macht einen Riesenunterschied für Deutschland, ob am Ende des Jahres die Linkspartei unter Oskar Lafontaine etwas zu sagen hat oder wir, die Kraft der Freiheit.« – Herr Brandt, wie reagieren Sie, wenn eine sogenannte linke Gefahr heraufbeschworen wird?
Viele Bürger haben verstanden, dass Planlosigkeit in unserer Zivilisation nicht mehr für Freiheit und Liberalität steht, sondern für Mangel an Verantwortungsbewusstsein; dass die Alternative zur Planlosigkeit nicht freies Spiel der Kräfte, sondern Chaos heißt und dass ein solches Chaos mörderisch sein kann.

Kann man sich als demokratischer Sozialist auf das Grundgesetz berufen, wenn man den Kapitalismus überwinden will?
Wir haben festgestellt: Zwischen den Forderungen des Grundgesetzes und der Verfassungswirklichkeit klaffen Risse. Das weithin noch unerfüllte Verfassungsgebot von der Sozialbindung des Eigentums macht sie drastisch sichtbar. Die CDU/CSU hat in den langen Jahren ihrer Regierungsverantwortung bewiesen, dass sie mit diesem Verfassungsgebot nichts oder wenig im Sinn hatte. Eigentum muss, wo es für das Gemeinwohl notwendig ist, jenen Nutzungseinschränkungen unterworfen werden, die der Verfassung gemäß sind.

Was bedeutet »demokratischer Sozialismus«?
Demokratie als gesellschaftliche Notwendigkeit zu verstehen, Sozialismus als konsequente Demokratie zu begreifen. Ob dies gelingt, davon hängt ab, ob die Zukunft der Menschheit im Zeichen der Menschlichkeit stehen wird. (Schon) unser Godesberger Programm nennt die Grundwerte des demokratischen Sozialismus: Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität.

Ist die soziale Marktwirtschaft gescheitert?
Niemand, der den Marktmechanismus versteht, wird den marktwirtschaftlichen Prozess aufs Spiel setzen wollen. Doch ich habe mich andererseits dagegen gewehrt, dass mit dem Schlagwort von der sozialen Marktwirtschaft teils eine plumpe Sozialisierung der Verluste – also Kapitalismus mit beschränkter Haftung – betrieben und dieser Begriff außerdem häufig als Deckblatt für die Unantastbarkeit von Privilegien missbraucht wird.

Welches Europa wollen Sie?
Europa darf nicht Selbstzweck sein. Unser Ziel ist nicht ein Europa der Banken und Konzerne, sondern eine Gemeinschaft, die über die wirtschaftliche Kooperation und die politische Organisation zu einer sozialen Union zusammenwächst.

Sie verstehen also Skeptiker, die durch einige Entwicklungen in der EU das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsgebot gefährdet sehen, werfen ihnen nicht sogleich eine anti-europäische Grundhaltung vor?
Auch die europäische Integration hat unmittelbar den Menschen zu dienen. Sie soll die Arbeits- und die Lebensbedingungen verbessern. Sie soll dem Anspruch der Arbeitnehmer auf messbare Fortschritte gerecht werden.

Soziale und politische Grundrechte – wie das Streikrecht oder die Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit – sollten demnach auch in Europa Vorrang vor den Grundfreiheiten des Marktes haben?
Die sozialen Grundrechte sollen Wirklichkeit werden. Planung, Mitbestimmung und demokratische Kontrolle müssen schließlich die Qualität unserer Gemeinschaft bestimmen. Aus der Verflechtung internationaler Unternehmen ergibt sich das klare Interesse an einer Tarifpolitik, die nationale Grenzen überwindet. Es darf nicht ein Europa erster und ein Europa zweiter Klasse geben, weder regional noch innerhalb der Mitgliednationen.

Die sozialen Energien Europas, die es zu entwickeln gilt, werden auch neue demokratische Impulse wecken. Doch auf eine Automatik können wir uns nicht verlassen. Hier finden die Generationen, die jetzt die politische Verantwortung übernehmen, ihren großen Auftrag. Sie können das Europa der realen Freiheit formen, das Europa, das nun die Aufgabe leistet, an der es in der Gefangenschaft der Nationalismen, mit seinem zivilisatorischen Hochmut und seiner Nachgiebigkeit gegenüber dem Unrecht versagt hat: der Welt ein Beispiel zu geben für die Herrschaft der Vernunft über die Produktivkräfte, für die Herrschaft der Gerechtigkeit über die Egoismen der Macht, für die Herrschaft der Humanität über die Krankheit der Intoleranz.

Wie steht es um Militäreinsätze? Ist es Fundamentalopposition, wenn man verlangt, dass der Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr erhalten bleibt und nicht durch europäische Regelungen ausgehebelt wird?
Die großen Aufgaben, die sich die deutsche Sozialdemokratie gestellt hat, sind zugleich ihr Auftrag für Europa und in Europa: die beharrliche Arbeit für den Frieden. Das Grundgesetz enthält einen präzis gefassten, bindenden Auftrag an den Staat, zur Wahrung des Friedens beizutragen. In der Präambel schon ist das Friedensgebot verankert. In Artikel 1 ist von den Menschenrechten als Grundlage des Friedens die Rede. Wir haben uns mit Nachdruck zu fragen, welche friedenspolitischen Aufgaben heute vor uns liegen. Es sind vor allem zwei: Die eine besteht darin, den unvorstellbaren Wettlauf der Rüstungen zu einem Ende zu führen...

Deutschland ist drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt.
Das energische Bemühen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ist schlicht ein Gebot von Vernunft und Menschlichkeit. Es hat zugleich Verfassungsrang. Die zweite friedenspolitische Aufgabe, die vor uns liegt, besteht in der Überwindung des gefahrvollen Spannungsfeldes zwischen den Industrienationen und weiten Teilen der Dritten Welt. Ein weiter wachsender Graben zwischen armen und reichen Nationen ist nicht nur moralisch inakzeptabel, er führt auch zu einer zusätzlichen Bedrohung des Weltfriedens.

Viele sagen, ein radikales Nein zum Krieg sei heute keine Grundlage mehr für Realpolitik.
Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.

Die Realpolitik der SPD sieht vielfach anders aus. Sie haben 1973 noch betont: »Das Grundgesetz verwirklichen, das heißt …«
… den Sozialstaat durchsetzen, mehr Demokratie in Staat und Gesellschaft verwirklichen.

Und Sie fuhren fort: »Die Gesellschaft demokratisieren heißt für uns Sozialdemokraten ...«
... konkret, die Rechte der Vielen stärken.

Oskar Lafontaine zitiert gern den alten griechischen Demokratiebegriff des Perikles: »Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.«
Das Recht muss gerechter werden. Dabei ist das Grundziel aller Gesellschaftspolitik jene Freiheit und Erfüllung der Individualität, die man Selbstverwirklichung nennt. Sie kann der Mehrheit unserer Bürger nur aus den Energien des Sozialstaates zuwachsen.

Das klingt gut und vernünftig. Aber viel Vernünftiges wird von Politikern nach Wahlen wieder vergessen. Franz Müntefering sagte mal: »Wir werden an den Wahlversprechen gemessen – das ist unfair.« Teilen Sie diese Ansicht?
Eines ist unerlässlich, dass für Sozialdemokraten nach der Wahl gilt, was sie vor der Wahl gesagt haben. Hier darf nichts im Zweifel bleiben.

Interview: Thorsten Hild

Der Autor betreibt eine eigene journalistische Plattform im Internet,
www.wirtschaftundgesellschaft.de.

Die Antworten Brandts sind Zitate, aus:
Das Grundgesetz verwirklichen – Deutsche Politik und sozialdemokratische Grundsätze. Reden von Willy Brandt, Parteitag Hannover 1973

Willy Brandt zu: 30 Jahre Grundgesetz: Der Auftrag der Verfassung heißt Frieden, in: Vorwärts, 22/79

Vortrag Willy Brandts in der Universität Oslo am 11. Dezember 1971 – anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises

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