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Die Schweiz als Idee

Alexander Kluge über ungeschriebene DDR-Geschichte und östliche Genies der Reparatur

  • Lesedauer: 8 Min.
Der letzte Sommer der DDR. Darüber gibt es jetzt eine Dokumentation von »Spiegel-TV« und Alexander Kluges DCTP. Jener Sommer '89 war die letzte Phase, in der die DDR »sehr besonders« war, meint der Filmemacher Kluge in Teil 26 unserer Serie über die Zeitenwende 1989. Der Autor und Regisseur ALEXANDER KLUGE (über 20 Filme), Jg. 1932, zählt zu den einflussreichsten Intellektuellen und Künstlern der Republik. Der Büchner-Preisträger ist einer der Geschäftsführer von DCTP, einem unabhängigen Programm-Anbieter im Kommerz-Fernsehen. DCTP ist beteiligt an der Spiegel-TV-Dokumentation »Der letzte Sommer der DDR« von Thomas Schaefer, sie läuft am 4. Juli, 20.15 Uhr bis 00.15, auf »Vox«.

ND: Alexander Kluge, es gibt ein seltsames Verhältnis zwischen Jahreszeiten und Geschichte – Heißer Herbst, Deutschland im Herbst, Prager Frühling, Winter unseres Missvergnügens. Und jetzt dieser Film: »Der letzte Sommer der DDR«.
Kluge: Dieser Sommer 1989 war, genau genommen, der vorletzte der DDR. Es war aber der letzte Sommer, in dem die DDR sehr besonders war. Gegenüber den Ereignissen im November ist der Sommer eher unbekannt. Das gilt übrigens auch für den Dezember 1989, den Monat voller heute unbekannter Möglichkeiten.

Was heißt das?
Der französische Präsident Mitterrand reiste im Auftrag von Mrs. Thatcher in die Hauptstadt der DDR, um einen Vorschlag zu machen: Eine unabhängige DDR, die ja ihr Wirtschaftssystem zu ändern begann, könne umgehend in die Europäische Union eingegliedert werden, nach dem Saar-Statut. Das war eine kühne Idee. Mitterrand kam mit Bankiers und allen Ministern, die man für so einen Plan benötigt, aber er fand keinen einzigen Gesprächspartner. Solcher Art sind die Geschichten, die mich interessieren.

Die Zeit für kühne, also scheinbar unrealistische Ideen war sehr kurz.
Sie reichte gleichsam bis Heiligabend 1989. Deshalb interessiert uns speziell auch dieser Dezember, wir werden vier Stunden Film darüber machen, zusätzlich zu dem »Letzten Sommer«. Die Vorstufe können Sie bei www.dctp.tv auf »Spiegel Online« anklicken. Viele kompetente Leute aus Politik und Wirtschaft, die wir interviewten, haben gesagt: Es gab die objektive Möglichkeit, diese DDR zu erhalten – als eine Art zweite Schweiz oder eben als erstes europäisches Musterland unter der Obhut der Verantwortlichen in Brüssel.

Das hätte Subventionen erbracht bei gleichzeitigem Erhalt der Industrie.
Nehmen Sie doch nur das Kabelwerk Oberspree in Berlin, das war doch ein mächtiges Gebilde – die Kabel, die dort produziert wurden, benötigte man in der Welt. Dieser Betrieb blickte auf Jahrzehnte erfolgreicher Produktion unter unterschiedlichsten Regimen zurück – und so etwas wird eines Tages aufgelöst und liquidiert. Das ist eine Deformation des Konkurrenzgedankens.

Wie blicken Sie auf die gängige Geschichtsschreibung über die DDR?
Die wahre Geschichte der DDR ist noch nicht geschrieben. Nehmen Sie jenen berühmten Winter 1979, als die Schneemassen das Land überfallen und die Natur fast einen Sieg errungen hätte – da findet sich eine ganze Republik zusammen, jeder packt an, der etwas versteht von Hilfe, von Reparatur, von Handwerk – und für einen Moment ist die Gesellschaft stolz auf sich. Von so etwas muss erzählt werden! Der Osten war doch überhaupt ein Landstrich, den fortwährend Reparaturarbeiten banden, immer wieder dieses Instandsetzen, Ersetzen, Ausgleichen, Nachfüllen, Improvisieren. So entstanden in der DDR, wie auch in anderen sozialistischen Ländern, Reparatur- und Havariebewältigungsgenies, ein Ingenieurstyp, der im Grunde alles reparieren kann. Leider wird auf dem Weltmarkt genau für diese großartige Gabe nichts gezahlt.

Die Dinge werden lieber weggeschmissen und neu produziert.
Ich habe hohe Achtung vor diesen Ingenieuren des täglichen Flickwerkes, in der Industrie, auf dem Lande. Sie haben die DDR zusammengehalten, und von ihnen wird zu wenig erzählt. Sie waren die andere Seite der Politik, deren Verheerungen wieder und wieder reproduziert werden in den Berichten. Ich denke auch an einen anderen harten Winter, im Kreiskrankenhaus in Halberstadt ...

... Ihrer Heimatstadt.
Ja. Die Heizung fällt völlig aus, es wird eine Lokomotive dort hingefahren, die versorgt das Ganze mit Energie und Heizkraft. Das ist für mich eine spannende grenzüberschreitende Kooperation zweier Behörden, die im Normalfall nicht stattfindet: Gesundheitswesen und Eisenbahn, Ausbesserungswerk und Kreiskrankenhaus. Solche Geschichten muss man achten und beobachten. Sie zeigen: Die Welt bleibt tatsächlich in der Produktion, in der Produktivität von Menschen zentriert. Dass man so etwas nicht unterschlägt, gehört zum Erzählen, gehört zur Aufgabe von Öffentlichkeits-Arbeitern.

War die DDR, wie Heiner Müller sagte, ein »Ideendrama«?
Die DDR hat in ihrer Geschichte selbstverständlich Ideen vertreten, auch dramatische Ideen. Und ihre Existenz gehört in einen Gesamtzusammenhang von Errungenschaften und Irrtümern, die bereits bei der Französischen Revolution beginnen und bis heute nicht abgeschlossen sind. Aber am Ende der DDR war das so eine Sache mit den Ideen: Was hatten denn Wirtschaftsprüfer, die aus Westdeutschland einreisten und später Abwicklungen betrieben, an dramatischen Ideen anzubieten? Die Umwandlung der Wende in ein Ideendrama fand nicht statt.

Was hat Sie abgehalten, je im Leben Kommunist zu werden?
Die Art, in der nach Lenin und Trotzki eine Uniformierung von Theorie und Praxis stattgefunden hat. Nicht mal Marx wäre Mitglied jener Partei geworden, die mit Stalin in die Welt kam. Für so was Verderbtes saß Marx doch nicht in seiner Londoner Bibliothek, wo er »Das Kapital« oder den »18. Brumaire« schrieb. Man soll heute nicht kleinschreiben, was an großem Geist mit dem Kommunismus verbunden war, aber was das »Ende der Verbrechen« sein wollte, wie Brecht schrieb, wurde zu einem Zentrum des Verbrechens.

Woran ging die DDR zugrunde?.
Ihr Tod war der Mangel an wirklicher Öffentlichkeit. Jeder Mensch macht Erfahrungen, in Betrieben, in seiner privaten Sphäre. Aber mit Selbstbewusstsein verknüpfen Menschen diese Erfahrung nur in einer gemeinsamen Öffentlichkeit. Und die gab es in der DDR lediglich als selektiv gehandhabtes Instrument. Das Informationswesen rackerte sich ab, um die Menschen nicht zu informieren und das ehrliche öffentliche Gespräch zu verhindern. Heiner Müller hat es gesagt: Gorbatschows neues Denken bestand darin, endlich auszusprechen, was die Menschen in der DDR seit 40 Jahren wussten.

Gorbatschow haben Sie mit Cäsar verglichen.
Er wurde von Verschwörern umgebracht. Wie man Gorbatschow stürzte, wie ihn Jelzin im Parlament vorführte, war ein ähnlich brutaler Vorgang.

Er gilt einigen als Verräter des Sozialismus.
Das ist überhaupt kein Verräter! Perestroika und Glasnost waren so etwas wie eine Republikneugründung.

Stephan Hermlin sprach von einer »zweiten Oktoberrevolution«.
Gorbatschows Weg war früh gefährdet – einmal durch Putschisten, die mit Drohgesten früh bereitstanden und auf ihre Stunde lauerten, und dann durch jenen wilden Individualismus, der mit der Öffnung eines betonierten Gesellschaftsgefüges unweigerlich losbrechen musste. Es gab mit Perestroika und Glasnost viel konzentrierten guten Willen in Russland, aber so eine offene Situation endet oft mit einer privaten Aneignung des Gemeinwesens. Das lehrte schon die Französische Revolution: Wo sich etwas lockert, schlägt der Privatbesitz sofort zu. Aber nie vorher oder nachher hatte ich ein solches Vertrauen in Politik wie während der Perestroika. Gorbatschow als Held des Rückzugs hat dem Ende des 20. Jahrhunderts eine große Würde gegeben, aber er stand wahrscheinlich vor einer unlösbaren Aufgabe. Wenn diese Perestroika jedoch hätte durchhalten können – es wäre ein interessanter Weg in die Emanzipation gewesen. Diese Gorbimanie damals erzählte etwas von dem, was gemeinsame freiwillige Taten von Menschen zusammenhält. Etwas Kollektives, Selbstreguliertes, das ohne Befehl funktioniert.

Sie haben geschrieben, die Russen seien nicht auf der Höhe der Evolution gewesen, als sie sich für Jelzin entschieden.
Ja. Gorbatschow war kein Soldat, kein Militanter, kein Landsknecht. Besseres kann man von einem Politiker nicht sagen. Es war eine Anfangs- und zugleich eine Abschiedsgeschichte.

Leben wir vom Zeit- und vom Lebensgefühl immer noch so, wie Heiner Müller sagte: zwischen Eiszeit und Kommunismus?
Eiszeit ist ein Eckpunkt, Emanzipation ein zweiter. Ich würde aber den Ausdruck »Kommunismus« schwer über die Zunge bringen – lieber würde ich mich in den Reformbegriffen der Französischen Revolution ausdrücken und mich von dort aus vorwärtsdenken ins Jahr 2009, in unsere stark reformbedürftige Zeit.

»Der letzte Sommer der DDR« zeigt: Mit der DDR implodierte eine Hierarchie, mit dem Sozialismus verschwand ein Reich. Welche Folgen hat das für den Gefühlshaushalt der Menschen?
Zunächst einmal ist die friedliche Revolution in der DDR eine Geschichte über die Zeit, die vergehen muss, ehe eine Zuschauermenge Initiative ergreift. So ein Weltenwechsel erfasst natürlich auch die Lebensläufe. Im Lebenslauf verteidigt der Mensch das einzige, was er besitzt: seine Zeit und seinen Eigensinn. Mich bewegt, wie diese Logik, die ein Mensch in seiner Froschperspektive für sich selbst entwickelt hat, durch Zeitgeschichte korrigiert, aufgerieben, gestoppt, zerstört wird. Oder wie diese erworbene Logik gekräftigt wird: Es gibt nämlich Dinge, die sich Menschen nicht wegnehmen lassen. Gefühle können Partisanen sein, Katalysatoren, Störenfriede, Bremser und Vollender. Sie sind ein geheimnisvolles Inventar der Geschichtslandschaften, sie begründen bestimmte Prozesse weit jenseits des organisierten guten Willens, der sich Politik nennt. Mich interessiert, wie viel emotionale Gravitation Menschen benötigen, um mit riesenhaft gewachsenen objektiven Verhältnissen – die ihnen über den Kopf wachsen – umzugehen.

Und gegen diese Verhältnisse anzuerzählen?
Möglichst aber auch, ihnen zu entkommen, sich in ihnen zu bewegen, und, weil es immer und überall Lücken gibt, in ihnen dennoch zu existieren. Wir leben nach Trägheitsgesetzen. Wenn etwas beschleunigt wird, verlangsamt sich irgendetwas anderes. Ich zweifle daran, dass sich Menschen binnen 100 oder 200 Jahren nennenswert wandeln. Einzelne Eigenschaften können treibhausmäßig beschleunigt werden, andere wiederum bleiben genauso wie vor 2000 Jahren. Die Gefühlszonen, die Mentalitäten sind ein ungeheuer langsam entstehender Bau. Aber um das Auf und Ab auf dieser Baustelle zu bemerken, müsste man uns aus einem Abstand betrachten, den nur ein Marsmensch haben kann.

Interview: Hans-Dieter Schütt

Die ND-Serie »20 Jahre nach '89« erscheint jeweils zu Wochenbeginn.
Am nächsten Montag: Nationalpreis mit Preisverfall?

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