Geschlossene Gesellschaft

Vor 25 Jahren in Berlin: Fluchtwelle in die BRD-Vertretung

  • Karsten Laske
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine Gesellschaft ist die Summe ihrer Lebensgeschichten. Auch die DDR war kein Einheitsblock der Erfahrungen, und ihre Geschichte ist nicht nur die Geschichte derer, die dort gern lebten. Öffentlichkeit haben seit dem Ende des Systems auch jene, die das Land verlassen wollten. Und hierfür reichte eine Sehnsucht: Freiheit.

Im Jahre 1984 gelangen DDR-Bürger in die US-Botschaft in Berlin, andere in die Prager Botschaft der BRD. Wie noch in keinem Jahr zuvor drängt es in Berlin Menschen in die Ständige Vertretung der BRD bei der DDR. Der Sommer 1984 – wie ein zaghaftes Vor-Spiel von 1989 ...

Inge Albrecht ist 1984 zwanzig Jahre alt, lebt in Ost-Berlin und arbeitet als Video-Cutterin beim Fernsehen. Sie hat nur ein Ziel: raus aus dem ummauerten Land.

Sie stellt einen Ausreiseantrag. Nun ist es offiziell. Sie ist »Ausreisewillige«, sie ist »Antragstellerin«. Das wird, so lange sie noch in der DDR bleibt, ihr Leben bestimmen. Sie wird ihren Job beim Fernsehen verlieren, das weiß sie, ein paar Freunde vielleicht auch. Am nächsten Tag geht sie auf einer Eisbahn Schlittschuh laufen, dabei bricht sie sich ein Bein, ist krank geschrieben, hängt zuhause rum. Sie hat das Gefühl: Etwas muss geschehen. Ihre Freundin Silvia denkt ebenso. Und auch Christine, eine Frau Mitte 30, Mutter zweier Kinder, die sich in einen Lüneburger verliebt hat. Die drei haben das Gefühl, ihre Zeit läuft ab.

Dabei wurden gerade 1984 auffällig viele Ausreisen genehmigt. In den ersten vier Monaten bereits 25 000 (im ganzen Jahr werden es über 40 000 sein). Eine solche Ausreisewelle hatte es seit dem Mauerbau nicht gegeben. Grund war der zweite Milliardenkredit für die DDR, über den Kanzleramtsminister Philipp Jenninger und Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski im ersten Halbjahr '84 verhandelten. Und SED-Generalsekretär Erich Honecker wollte Ende September in die Bundesrepublik reisen. Man sollte meinen, das habe die Lage entspannt.

Aber im Gegenteil. »Die Leute rannten in einer Art Torschlusspanik in die Botschaften«, erinnert sich Hans Otto Bräutigam, damals Leiter der Ständigen Vertretung in Berlin, »sie meinten, der Zug in den Westen sei in Bewegung, und sie wollten noch aufspringen.«

So denken offenbar auch Inge Albrecht und ihre Freundinnen. Warten, das Grundgefühl vieler junger Ostdeutscher in den Achtzigern – es reicht ihnen. Am 30. Mai feiert Inge ihren 21. Geburtstag. Da befinden sich in der Vertretung bereits wieder ein Dutzend Leute, die raus wollen. Die SED-Führung will sich nicht erpressen lassen und erfindet eine neue Strategie. Aussitzen, die Flüchtlinge schmoren lassen. Das Signal lautet: Wer in die westdeutschen Botschaften rennt, wird dort in der Falle sitzen. Anwalt Vogel hat kein Mandat mehr, die Leute schnell und klammheimlich außer Landes zu schleusen. Einige von ihnen, die meinten, das Betreten der Botschaft sei schon die vollzogene Ausreise – sie werden nun mit einer anderen, ihnen allzu bekannten Realität konfrontiert: warten. Wieder warten.

Die Botschaftsflüchtlinge sind eine Belastung – für beide Seiten. Sie kratzen am Renommee der DDR in ihrem 35. Jahr. Und sie berühren einen empfindlichen Punkt im Selbstverständnis der Bundesrepublik. Die hat vielfach ihre Obhutspflicht für alle Deutschen erklärt. Andererseits kann sie DDR-Bürger nicht einfach annektieren. Ost-Berlin setzt in diesem Fall die Regel – und die westdeutsche Seite hat sie längst akzeptiert: erst Ausreise, dann Einreise.

Am 7. Juni 1984 nachmittags sitzen sie in der Straßenbahn. Inge mit Gehgips, zum Glück ohne Krücken, Silvia, Christine und ihre beiden Kinder. Der Sohn ist fünf, das Mädchen elf. Es ist der Donnerstag vorm Pfingstwochenende. In Berlin versammelt sich die FDJ zum großen Treffen. Aber die Frauen wollen nicht zum Konzert von Dean Reed, Berluc oder Karat und schon gar nicht zu einer der vielen Kundgebungen. Sie fahren von Lichtenberg nach Mitte, es ist eine lange Fahrt, die sie schweigend zurücklegen.

Sie haben sich schick gemacht, um als Westler durchzugehen. Inge hat eine Faustan genommen, ein starkes Beruhigungsmittel. Sie haben kein Gepäck. Silvia, die in einem Leipziger Fotoladen arbeitet, hat die Geburtsurkunden der Frauen, Zeugnisse und Ähnliches abfotografiert, alles auf einen Kleinbildfilm, der noch nicht entwickelt ist. Den trägt sie bei sich. Sollten sie verhaftet werden, so der Plan, würde sie den Film herausziehen und belichten und damit den Beweis vernichten. Sollten sie durchkommen, müssten sie im Westen nicht bei Null anfangen, stünden nicht ohne Papiere da.

Am Oranienburger Tor steigen sie aus. Sie haben einen guten Blick hinein in die Hannoversche Straße, auf das Gebäude der Ständigen Vertretung. Vor dem Haus wachen zwei oder drei Volkspolizisten, auf der gegenüberliegenden Seite schlendern auffällig unauffällige Männer in Zivil. Was jetzt? Wie sollen sie zu fünft unbehelligt in die Vertretung kommen? »Wir gehen dran vorbei. Wenn’s aussichtslos erscheint, gehen wir einfach weiter. Raffinierter war unser Plan nicht«, sagt Inge Albrecht. »Wir waren ziemlich naiv.«

Aber der Zufall hilft. Plötzlich marschieren in breiter Front FDJler heran, die zum Stadion der Weltjugend wollen. Kurz entschlossen reihen sich die Fünf unter die Blauhemden. Als sie in die Nähe des Eingangs kommen, läuft Inge los. Das Zeichen! Die andern ihr nach. Die Männer von der Gegenseite kommen nicht so schnell durchs Gewühl, und die Polizisten sind gerade nicht bei der Sache.

»Ich die Tür aufgerissen«, erinnert sich Inge Albrecht, »die andern liefen noch die zwei, drei Stufen hoch. Da bekam der eine Polizist den Jungen am Kragen zu fassen. Christine schrie ihn an. Er erschrak, und es konnte ja immerhin sein, dass wir Westdeutsche sind. Er ließ das Kind los …«

In Inges Stasi-Akte ist richtig vermerkt: »Seit dem 7.6.84 gegen 17 Uhr hält sich die Albrecht in der Vertretung der BRD in der DDR auf, um ihre Übersiedlung zu erzwingen.«

»Wir waren drin!«

Und sie wollen bleiben. Hans Otto Bräutigam und seine Mitarbeiter sind nicht begeistert. Eine Nacht lässt man sie auf Matratzen unten im Warteraum schlafen. Erst am zweiten Tag dürfen sie in den fünften Stock hinauf, wo normalerweise Beamte des Bundesgrenzschutzes untergebracht sind, die für die Hausordnung sorgen. Aber die mussten längst das Feld räumen. Jetzt haben hier die Asylanten Quartier bezogen. Leute aus allen Schichten, Produktionsarbeiter, ostdeutsche Buddhisten, ein NVA-Deserteur – bis hin zu einer korpulenten Mutti, die mit Mann und Kind und Koffern im Taxi in der Hannoverschen Straße vorfuhr und unbehelligt die Vertretung betrat; mit so viel Chuzpe rechneten die Polizisten vor der Tür nicht.

Es wird eng und enger.

Es gibt zwei Duschen, zwei Toiletten. Eine Tischtennisplatte, Kinderspielzeug, Zeitungen, ein paar Bücher, einen Fernsehraum. Es ist heiß, aber die Fenster sollen nicht geöffnet werden. Alkoholverbot. Wenn die Kinder schlafen, spielt sich das Leben auf dem Flur ab.

»Die Stimmung war explosiv«, erinnert sich Bräutigam. Inge und Silvia erleben es anders. Sie finden alles nicht so schlimm. »Wir hatten ja unser Ziel vor Augen.«

In der zweiten Junihälfte muss Bräutigam der Wahrheit ins Auge sehen: 55 DDR-Bürger hausen inzwischen in der Vertretung, es geht nichts mehr, immer noch wollen neue dazu. Er sieht sich am Ende seiner Kräfte. Am 26. Juni ordnet er die Schließung des Hauses an. Als er am nächsten Tag von Journalisten gefragt wird, wie er sich fühle, sagt er: »Das ist der Tiefpunkt meiner Tätigkeit, seit ich mit der DDR zu tun habe.«

Doch hinter den Kulissen kommt Bewegung in die Sache. Staatssekretär Ludwig Rehlinger vom Ministerium für innerdeutsche Beziehungen und Anwalt Vogel erarbeiten ein Papier, das allen Asylanten Straffreiheit bezüglich ihres Aufenthalts in der Ständigen Vertretung zusichert und ihnen ihre Ausreise garantiert.

Allerdings müssen sie zuvor an ihre Wohnorte zurückkehren, dort werde ihnen kurzfristig ihre Ausreise genehmigt, heißt es. Das ist ein Schock für viele, sie rechnen mit einer Falle. Aber es erfüllt die Minimalforderung, von der die DDR-Führung nicht lassen will: erst Ausreise, dann Einreise. Es kostet Anwalt Vogel und die Botschaftscrew Zeit und zähes Verhandeln, die misstrauischen Flüchtlinge nach und nach zum Gehen zu bewegen.

Zwei Tage später schon ist Inge im Westen. Vier Wochen Notaufnahmelager Marienfelde. Dann bekommt sie eine kleine Wohnung in Kreuzberg. Sie blickt über die Mauer nach Friedrichshain, wo sie zuvor gewohnt hat. Honecker übrigens darf in dem Jahr noch nicht 'rüberfahren. Die Moskauer Führung verbietet den BRD-Besuch. Bis 1987 muss er warten.

Ihre Freunde und Eltern traf Inge in den nächsten Jahren gelegentlich in Prag oder Budapest. Dem Fernsehen blieb sie treu. Sie studierte an der Berliner Filmakademie Regie und an der FU Journalismus. Über die Wochen in der Ständigen Vertretung drehte sie einen Film. »Wir sind doch kein Hotel.«

Heute arbeitet sie aus Berlin für den ORF. Sieben Jahre lebte sie mit einem Mann vom Wachdienst, den sie in der Vertretung kennen gelernt hatte; Freundin Silvia heiratete einen seiner Kollegen. Sie sind noch heute zusammen.

Inge mit ihrer Freundin Silvia (links)
Inge mit ihrer Freundin Silvia (links)
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