Solidarität aus Prinzip

  • Günter Pohl
  • Lesedauer: 5 Min.
Solidarität aus Prinzip

So manche Stereotype prägen die Artikel, die sich in diesen Tagen mit der Frage befassen, warum oder warum eben nicht Solidarität mit dem heutigen Nicaragua geübt werden soll. Einige eigentlich banale Grundregeln fallen dabei zuweilen unter den Tisch.

Die Selbstverständlichkeit, dass die letzten zwanzig Jahre überall nachhaltige Veränderungen brachten, scheint im Falle Nicaraguas zu einem automatisierten Abwertungsreflex zu geraten, was die heutige Politik der FSLN angeht. In der Tat: Formal scheint ja die FSLN mit der Wahl des Jahres 2006 an die Regierung zurückgekehrt. Das stimmt aber nur dem Namen nach. Es wird übersehen, dass die 1979 bis 1990 regierende FSLN damals keine Partei war, sondern eine militärisch gegen eine Diktatur siegreiche Guerilla, die daher auch anders agieren musste als eine Partei. Ferner wird der damaligen Regierungszeit eine Aura von Idealen verpasst, die vielleicht mehr mit den Erwartungen ausländischer Kaffeebrigadisten als mit dem Machbaren zu tun hat. Fakt ist nämlich, dass die damalige FSLN erstens nicht lupenrein links oder gar marxistisch war (sondern ein Bündnis aus linken und bürgerlichen Kräften), zweitens kein sozialistisches Programm verfolgte (sondern zunächst den Sturz der Somoza-Diktatur und dann die Verteidigung der Befreiung gegen die innere und äußere Konterrevolution) und drittens selbst bei den notwendigerweise zaghaften Reformprogrammen aufgrund des Drucks durch den Contra-Krieg nicht effektiv weiterkommen konnte.

Mit den Wahlen vom Februar 1990 ging das sandinistische Projekt gespalten in die Opposition, wurde bald Partei und regierte ab da »von unten«, wie Daniel Ortega bei der Amtsübergabe gesagt hatte. Was als eine der essenziellen Errungenschaften blieb, beschrieb der nicaraguanische Historiker Aldo Díaz im November 2005 so: »Die wichtigste Konsequenz der Niederlage der Sandinistischen Front war die Einführung der demokratischen Regierungswechsel, nach fast neunzig Jahren. (…) Vier Generationen von Nicaraguanern hatten nie einen demokratischen Regierungswechsel kennengelernt, und auch nicht, dass eine bewaffnete Revolution die Macht durch Wahlen an eine ideologisch diametral andere politische Kraft abgegeben hätte. Mit anderen Worten, der damals eingeführte demokratische Wechsel ist eine historische Tatsache, nicht nur für Nicaragua, sondern auch für Lateinamerika und die Karibik. Für die Zukunft ist festzustellen, dass die sandinistische Bewegung die Möglichkeit zur Wiedergewinnung der Regierung gewahrt hat, in einem geschichtlichen Augenblick, in dem sich eine neue lateinamerikanische Mehrheit gegen den globalisierten Neoliberalismus zusammenfindet.«

Letzteres ist nun geschehen, aber es war nun eine Partei FSLN, die diese Möglichkeit für die sandinistische Bewegung genutzt hat. In einer anderen Zeit: ohne Kalaschnikow, aber durch Wahlen – und übrigens als Minderheitsregierung. Und Regierung ist eben auch nicht Macht. Noch etwas, das in aggressiv-antiaufklärerischen Zeiten wohl immer wieder erwähnt werden muss.

Zwischen der ersten Regierungszeit, die wegen der militärischen Auseinandersetzung kaum über die Reformprogramme bei Bildung und Gesundheit sowie Landverteilungen (deren eilige Legalisierung nach der Niederlage 1990 heute von manchen ihrer damaligen Nutznießer als »Piñata« diffamiert wird) hinauskommen konnte, und der 2007 begonnenen Regierungsperiode lagen mehr als sechzehn Jahre rechter Privatisierungspolitik. Eine Zeit, die nicht nur die vielleicht größte Errungenschaft, die Alphabetisierung, zerstörte. Auch wegen dieses zeitlichen Kontextes sind übertriebene Erwartungen an eine Linksregierung in einem der ärmeren Länder Amerikas, noch dazu in Zeiten der Krise, sicher unangebracht.

Dennoch sind in den zweieinhalb Jahren seit dem Wechsel verschiedene Sozialprogramme der FSLN angelaufen: null Hunger, null Wucher, Produktivgutscheine für Bauernfamilien, Kinder-Programm »Amor«, Kreditvergabe, Wohnungs- und Straßenbau, Alphabetisierung mit über 54 000 Freiwilligen, Entprivatisierung des Bildungswesens, Kostenfreiheit des Gesundheitswesens, Wiedereinführung der Sozialversicherung. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) lobte die nicaraguanische Regierung im Mai 2009 für ihre vorbildliche Politik bei der Nahrungsmittelsicherheit. Hinzu kommt die erneuerte Idee direkter Demokratie, die auf die Sandinistischen Verteidigungskomitees (CDS) der 70er Jahre zurückgeht: die Räte der Bürgermacht, an denen sich eine halbe Million Menschen beteiligen. Auch außenpolitisch hat Präsident Ortega mit der Mitgliedschaft in der auf solidarischem Ausgleich und nicht auf Vorteilsnahme basierenden Bolivarianischen Alternative Amerikas (ALBA, heute: Bolivarianisches Bündnis für die Völker Amerikas) entwicklungspolitische Akzente gesetzt.

Diese Politik war wohl nicht so erfolglos wie mancher »linke« Kritiker sagt, legt man die Ergebnisse der Kommunalwahlen 2008/2009 zugrunde, die der FSLN mit 109 der 153 zu vergebenden Bürgermeisterämter einen deutlichen Zuwachs brachten. Die vom »Movimiento Renovador Sandinista« (MRS), der neoliberalen FSLN-Rechtsabspaltung (die im März für die Wahlen in El Salvador übrigens die dortige Rechtspartei ARENA unterstützte, die während des Bürgerkriegs für tausende Morde verantwortlich war), formulierten Wahlbetrugsvorwürfe werden genauso regelmäßig wie verlogen begleitet von der angeblich fehlenden internationalen Wahlbeobachtung. Die CEELA (Rat der Wahlexperten Lateinamerikas) war aber neben dem »Quito«- und dem »Tikal-Protokoll« im Lande; alle drei Organisationen stellten keine Unregelmäßigkeiten fest.

Der Schatten über der FSLN ist das für jeden Linken definitiv abzulehnende, von der PLC-Rechtsregierung 2006 kurz vor den Wahlen beschlossene und von Teilen der FSLN-Fraktion opportunistisch unterstützte Schwangerschaftsabbruchverbot. Erwähnt werden darf aber auch, dass die FSLN mit einem Gesetzentwurf zur Rückkehr zur alten Regelung an der jetzigen Opposition scheiterte.

Statt praxisferner, zuweilen eurozentristischer Belehrungen aus der Vogelperspektive braucht Nicaraguas Regierung auch dreißig Jahre nach dem Sieg der Volksrevolution Solidarität. Nicht erst seit den Ereignissen im Nachbarland Honduras und auch nicht deswegen – sondern prinzipiell.

Günter Pohl, 1965 geboren, schreibt regelmäßig zu politischen Entwicklungen in Lateinamerika, u. a. in »ila«, Monatszeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Im Juni veröffentlichte er dort einen längeren Diskussionsbeitrag zur Rezeption der heutigen FSLN und Daniel Ortegas in der deutschen Linken.

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