Grausame Sachen

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Autor ist Redakteur des ND und schreibt unter anderem über Themen aus dem Bereich Tierrechte/Tierethik.
Der Autor ist Redakteur des ND und schreibt unter anderem über Themen aus dem Bereich Tierrechte/Tierethik.

Er ließ 1300 Gänsen mit Maschinen die Federn ausreißen – bei lebendigem Leib. Deshalb darf einer der Eigentümer eines Mastbetriebs in Wistedt bei Hamburg mit sofortiger Wirkung keine Tiere mehr halten. Denn in der Europäischen Union ist nur das Rupfen toter Gänse mittels Maschinen erlaubt. »Was da passiert ist«, so ein Sprecher des Veterinäramtes im Kreis Harburg, »ist eine grausame Sache.«

Zweifellos. Allerdings sind viele »grausame Sachen« in der EU durchaus erlaubt und stehen bisweilen sogar unter dem fürsorglichen Schutz des EU-Vertragsrechts. Beispielsweise der »Encierro«, jene zum Gaudi abgestumpfter Touristenhorden in der nordspanischen Stadt Pamplona veranstaltete Stierhatz, die in diesem Jahr mit der Bilanz von einem Toten und 446 Verletzten endete – Menschen, wohlgemerkt. Denn das Abschlachten der etwa 50 in Angst und Panik versetzten sowie mit tagelangem Wasser- und Futterentzug geschwächten Stiere in der Arena gehört zum unverzichtbaren Ritual dieses »Volksfests«. Dass der von machistischen Gewaltfantasien getriebene Ernest Hemingway der sadistischen Quälerei in »Fiesta« ein »literarisches Denkmal« setzte, gilt als gleichsam säkulare Heiligsprechung des elenden Schauspiels. Als ob nicht auch Massaker an Menschen von Dichtern apotheosiert wurden, ohne dass diese Untaten damit in den Rang eines »Kulturguts« aufstiegen.

Während sich Brüssel ansonsten in jeden Käse im buchstäblichen Sinne einmischt, fällt derlei Barbarentum auch im Lissabonner Reformvertrag unter die ausdrücklich zu berücksichtigenden »Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere (!) in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe«. Was im Klartext bedeutet, dass das im Dokument kurz davor postulierte »Wohlergehen der Tiere als fühlende Wesen« das bedruckte Papier nicht wert ist, wenn dem irgendwelche religiösen Riten oder »Traditionen« entgegenstehen.

Auch die neue Schlachttier-Verordnung der EU exemplifiziert die Unmöglichkeit, einer genuin »grausamen Sache« einen »humanen« Anstrich zu verpassen. Rund fünf Milliarden Tiere (ohne Wassertiere) werden in der Union jedes Jahr für den Verzehr geschlachtet. Angesichts dieser unfassbaren Zahl nimmt sich die angestrebte »Minimierung von Leid und Vermeidung von Schmerzen im Verlauf des gesamten Schlachtvorgangs« wie ein Kabarett-Gag aus. Gar einen »Tierschutzbeauftragten« sollen Schlachthöfe ernennen. »Tierschutz«, wenn Milliarden fühlende Wesen massakriert werden? Unter Bedingungen, die auch im 21. Jahrhundert zum Schaurigsten und Abstoßendsten gehören, was sich auf Erden abspielt?

Angesichts dessen erscheint die Zahl von zwölf Millionen Tieren wie Affen, Hunde, Kaninchen oder Mäuse, die jedes Jahr in der EU für Tierversuche »verbraucht« werden, geradezu mickrig. Doch auch hier versagt »Europa«. Im Mai stimmte das EU-Parlament mehrheitlich für gravierende Verschlechterungen in der Neufassung der EU-Tierversuchsrichtlinie. So lehnte es ein Verbot für besonders schmerzhafte Tests und eine bessere Prüfung von Tierversuchsanträgen ab. Die ECEAE, ein europäischer Zusammenschluss von 17 Tierschutzorganisationen, forderte die jetzt neu gewählten Abgeordneten auf, für die endgültige Abschaffung von Tierversuchen einzutreten – und damit für das Ende wenigstens einer ausgesprochen »grausamen Sache«.

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