Klara und Aaron nehmen sich frei

Kathrin Gerlof

  • Lesedauer: 12 Min.

Sie steht vor ihrem Kleiderschrank und überlegt nun schon eine halbe Stunde, was sie anziehen könnte. Sie hat auch so ein Gefühl, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben darüber Gedanken machen sollte, was sie drunter trägt. Schließlich wird im Hotelzimmer irgendwann der Moment kommen, da sie sich ausziehen muss. Oder will. Ich könnte das natürlich im Bad machen, denkt Klara. Aber ob Aaron sich das so vorstellt? Himmel, was für ein Dilemma. Sie muss nun doch grinsen und wird von einer unbändigen Lust befallen, der Zicke von Pflegerin zu erzählen, was sie vorhat. Die würde sie glatt einsperren lassen, da ist sich Klara sicher. Deshalb ist es wohl besser, sie verkneift sich den Spaß. Klara hat ein klares Gefühl, sagt sie, und ihr Spiegelbild schickt ein fröhliches Lächeln zurück. In dieser Nacht hat sie von Henriette geträumt. Es war, als hätte ihr Kopf beschlossen, jetzt noch einmal in die Offensive zu gehen. Klara fühlt, dass dies die letzten Möglichkeiten sind, sich zu erinnern. Das ist wie bei Krebskranken, hatte sie in der Nacht gedacht, als sie nach dem Traum von Henriette aufgewacht war. Die fühlen sich dann, kurz bevor es ans Sterben geht, auch noch einmal ziemlich gut.

In ihrem Traum hatte sie sich mit Henriette versöhnt. Sie hat ihr gesagt, wie schlimm es in all den Jahren für sie gewesen sei, sich an die Schande zu erinnern. Die Schande mit diesem Mann, den Henriette geliebt hatte und den sie, Klara, verraten musste. Weil es sich damals so gehörte in ihren Augen. Das mit dem Russen hat sie nicht entscheiden können und das mit diesem Thomas auch nicht. Wirklich. Was Henriette aber nicht mehr erfahren konnte.

Klara setzt sich aufs Bett und legt die Hände in den Schoß. Die Entscheidung mit der Unterwäsche muss noch etwas warten. Was Henriette auch nicht mehr erfahren konnte, weil sie zusammen mit Elisa unter ein Auto gelaufen ist. Dass sie, Klara, diesem Thomas einen Brief geschrieben hatte. Nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war. Und in dem Brief hatte sie geschrieben, dass Henriette unschuldig war. Nichts dafür konnte. Gar nicht gewollt hatte, dass es so kommt. Dieser Thomas hat ja nie geantwortet, aber den Brief wird er doch bekommen haben. Denkt Klara. Und wenn nicht, dann werden sie ihm später erzählt haben, was gewesen ist. Als das hier vorbei war mit dem Land und allem. Aber vielleicht haben die, denen sie diesen Thomas verraten hatte, später Verrat an ihr begangen. Und den Brief nicht so weit kommen lassen, wie er sollte. Vielleicht war das die Rache an ihr. Der Russenhure und Kommunistenbraut und Verräterin.

Klara steht auf und geht wieder zum Schrank. Sie nimmt ein weißes Unterhemd und einen weißen Schlüpfer und den Büstenhalter, der kein Büstenhalter, sondern eine Prothese ist. Ein Brustersatz, eine Lebenshilfe. Denkt Klara manchmal, wenn sie ihn umbindet und binnen Sekunden eine vollständige Frau wird. Damals, in den ersten Jahren nach der Operation, musste sie sich Watte in ihre Büstenhalter stopfen. Und wenn es draußen richtig warm war und sie schwitzte, dann klebte die Watte wie ein Weihnachtsmannbart an ihren Narben. Sie hat ewig gebraucht an solchen Abenden, um jeden Wattefussel vom Körper zu bekommen.

Jetzt zieht sie für Aaron und für sich weiße, fast neue Unterwäsche an. Ihre Oberschenkel sind wirklich noch erstaunlich glatt. Wir werden uns ganz fragmentarisch lieben, denkt Klara und freut sich über dieses Wort. Wie sie sich immer freut, wenn ihr solche Sachen einfallen. Wenn ihr Verstand plötzlich wieder gut funktioniert. Meine Oberschenkel, denkt sie und streicht mit den Fingerspitzen über die Hautpartien zwischen Knien und Schlüpfer, sind in Ordnung. Mein Bauch ist gar nicht so schlecht. Meinen Rücken kann ich nicht sehen, aber immerhin bin ich hier auf der Etage wahrscheinlich eine der wenigen, deren Haut noch nicht wundgescheuert ist vom Liegen. Die Schultern. Klara streicht die Träger vom Büstenhalter etwas herab und geht ganz nah an den Spiegel. Meine Schultern sind noch halbwegs rund.

Jetzt wird es heikel. Klara dreht sich noch einmal um und versucht einen Blick auf ihren Hintern zu erhaschen. Nur einen kurzen, denn die Halswirbel knacken verdächtig bei der ungewohnten Bewegung. Mit beiden Daumen hat sie vorsichtig den weißen Schlüpfer etwas nach unten gezogen. Nicht allzu weit. Das wagt sie nun doch nicht. Sogar noch besser als meine Oberschenkel, murmelt sie und bedeckt mit weißer Baumwolle, was sie später vielleicht auch Aaron zeigen will.

Sie setzt sich wieder aufs Bett und versucht die Strumpfhose so anzuziehen, dass alles seine Richtigkeit hat. Reißt die Packung auf und stellt fest, dass die Farbe der Strumpfhose nicht etwa dunkelgrau ist, sondern dunkelgrün. Da muss sie also umdenken, denn nun geht das mit dem dunkelblauen Kleid nicht mehr.

Klara denkt an Franz und macht sich für Aaron schön. Franz hat sie nicht mehr angefasst, nachdem die Brüste weg waren. Er hat sich sehr bemüht, lieb zu sein und freundlich, und er hat sie auch nie auf eine Art betrogen, dass es ihr unangenehm oder peinlich sein musste. Sehr diskret, mein Franz. Viel diskreter als ich mit dem Russen.

Klara schaut auf die Uhr. Noch drei Stunden, bis sie sich mit Aaron davonmachen will. Sie holt das Schachspiel aus dem Schrank und stellt die Figuren auf. Ob ich noch den Schäferzug hinbekomme? Nach sieben Zügen ist der schwarze Gegner matt. Klara baut ihren Stolz langsam auf. Den wird sie brauchen, nachher, wenn es zur Sache geht.

Franz hat sie nicht mehr begehrt, und sie hat aufgehört, sich als Frau zu fühlen. Stattdessen hat sie ein bisschen Karriere gemacht. Erst ein Russenflittchen, dann eine Systemtreue. Das sagt sie dem Spiegel. Es interessiert sonst niemanden mehr. Aaron vielleicht, aber der mit seiner ganzen toten Familie wird darin nur Unheil finden. Systemtreue sind dem bestimmt nicht angenehm.

Es klopft kurz an der Tür, und im gleichen Augenblick steht schon die Zicke im Zimmer. Na, Frau Simon, brüllt sie, machen wir uns schön für den Ausflug heute Nachmittag?

Klara starrt das Monster an und fragt sich, wen es heute schon zur Weißglut getrieben haben mag.

Ich brauch noch eine Unterschrift, brüllt die Zicke. Weil Sie ja über Nacht bleiben wollen. Dass Sie mir nur keine Dummheiten machen.

Die ist fast noch schlimmer, wenn sie gute Laune hat, denkt Klara und unterschreibt, was auch immer. Wahrscheinlich steht da, dass sie alles der Zicke vermacht, wenn sie stirbt. Egal. Sie hat sich das Heim nicht ausgesucht, also muss sie es auch nicht gut finden. Im Nebenzimmer poltert es, und dann kommt ein Jammern herübergeschwappt, das Klara kennt. Die Zicke kriegt wieder ihr Wärterinnengesicht und stürmt aus dem Raum. Ein paar Sekunden später hört Klara sie nebenan mit der Alten schimpfen. Die hat sich wahrscheinlich wieder ihre Windel vom Leib gerissen und die ganze Chose im Zimmer verteilt.

Das wird alles bald auch meins sein, flüstert Klara. Aber ich werde mich vorher vom Hof machen. Muss das unbedingt mit Aaron besprechen. Wie man sich vom Hof macht, ohne dass sich da jemand einmischt. Da hätten wir uns alle viel früher drum kümmern müssen.

Klara rafft sich auf und hängt das blaue Kleid wieder in den Schrank. Sie nimmt den grünen Wollrock und die Bluse mit den Streifen. Die zieht sie an und wieder aus und greift zu einem Pullover, den ihr vor vielen Jahren Henriette geschenkt hat. Ein richtig schönes Stück. Tiefrot. Den hat sie seit Ewigkeiten nicht mehr getragen. Aber er könnte passen zu diesem Tag. Henriette, Elisa, Olaf und noch ein Kind. Ein ganz junges. Klara bekommt nun ein bisschen Angst, weil ihr das alles einfällt. Vielleicht hat sie wirklich Krebs. Im Kopf. Jetzt fällt ihr alles ein, und dann ist es auch schon vorbei mit ihr. So könnte es laufen ...

Wenn Henriette und Elisa tot sind, müsste doch noch dieses ganz junge Kind da sein. Das ja wahrscheinlich zu Elisa gehört, wenn Klara sich das richtig zusammenreimt. Sie hat es nie kennengelernt, das Kind, aber irgendjemand hat ihr davon berichtet. Wer könnte das gewesen sein? Klara geht auf den Flur und läuft den Gang einmal hoch und einmal runter. Sie trifft niemanden. Alle ans Bett gefesselt, brummelt sie und reißt probehalber zwei Türen zu fremden Zimmern auf. In einem liegt die Jammergestalt, frisch gewindelt und festgeschnallt. An den Wänden sieht man noch die braunen Spuren des jüngsten Widerstands. Nur grob weggewischt, da muss wieder jemand mit einem Eimer Farbe kommen. Die werden uns bald in gekachelte Zimmer einsperren, sagt Klara zu der Jammergestalt, der sie vielleicht zusätzlich noch ein paar Tropfen gegeben haben. Jedenfalls reagiert die überhaupt nicht.

Klara schließt die Tür wieder und geht zurück in ihr Zimmer. Sie muss noch ein paar Sachen einpacken. Waschtasche, Kulturbeutel, flüstert Klara, Handtücher, falls es in dem Hotel keine gibt, die gestreifte Bluse, falls sie kleckert, ganz unten in die Tasche eine geklaute Windel. Und Unterwäsche zum Wechseln. Nun ist sie wirklich mit allen Vorbereitungen fertig.

Aaron kommt pünktlich. Er klopft und wartet, bis Klara ihn hereinbittet. Dann schaut er, wie es seiner späten Liebe geht, und ist erleichtert, als sie ihn mit klaren Augen begrüßt. Verlegen ist er auch, aber das kann er gut überspielen. Dann wollen wir mal, Klara, sagt er. Mein Sohn wartet sicher schon. Er zwinkert mit dem linken Auge und bastelt für Klara eine Verschwörermiene zusammen. Die ist jetzt doch sehr aufgeregt und zieht den Mantel an und legt sich das Seidentuch um den Hals und nimmt ihre Tasche.

Wie schön du aussiehst, sagt Aaron, während er Klara die Tasche abnimmt. Im Foyer treffen die beiden auf die nette Pflegerin. Die steckt Aaron ein Kärtchen zu und sagt, es sei nur für den Notfall. Falls was sein sollte. Dann drückt sie Klara kurz einen winzigen Kuss auf die gepuderte Wange, dreht sich um und geht.

Als ob sie was weiß, flüstert Klara. Und Aaron nickt und sagt, das wäre dann auch nicht schlimm, wenn die was wüsste. Sie sei schließlich die Einzige hier, mit der man wirklich reden könne.

Im Hotel hat man schon auf sie gewartet. Zumindest wirkt es so auf Klara. Der Mann an der Rezeption greift sofort nach dem richtigen Schlüssel und winkt einem Jungen in Uniform, der Klara und Aaron die Taschen abnimmt. Er bringt sie bis ins Zimmer und stellt dort die Taschen vors große Ehebett. Klara schaut sich alles genau an und findet es erstaunlich, wie üppig so ein Hotelzimmer eingerichtet ist. Sie schaut in den kleinen Schrank. Der steht unter dem Fernseher und ist mit Flaschen gefüllt, von denen die meisten Alkohol enthalten. Wir könnten uns richtig betrinken, Aaron.

Das werden wir auf jeden Fall tun, sagt Aaron und packt seine kleine Tasche aus.

Ich nicht, denkt Klara. Da unten in der Tasche liegt eine Windel. Sie holt nur schnell die Waschtasche, Kulturbeutel, murmelt sie, heraus und stellt sie ins Bad. Die Hotelhandtücher sind auf jeden Fall schöner als ihre, also bleiben die unausgepackt.

Zuerst gehen wir spazieren, und dann essen wir im Hotel, sagt Aaron. Und dann, denkt Klara, kommt der schwierigste Teil des Abends.

Wenn wir wollen, Klara, legen wir uns einfach nur nebeneinander und schlafen diese Nacht nicht allein. Aaron macht alles genau richtig. Er will ihr keine Angst machen und hat selbst welche. Dies ist wirklich eine heikle Angelegenheit. Was sie sich da trauen.

Sie gehen durch den Park, den sie nun schon gut kennen. Diesmal sind viele Menschen unterwegs. Die Sonne scheint, und alle wollen ihren Teil davon abhaben. Aaron führt Klara zum Café. Heute setzen sie sich draußen an einen Tisch und warten auf die nette Kellnerin mit dem traurigen Gesicht. Die kommt und hat ein trauriges Gesicht und sieht noch krank dazu aus. Was ist mit Ihnen, fragt Klara und sieht, wie Aaron ganz verwundert ist. Die Kellnerin scheint zu überlegen, ob das nun einfach so rausgerutscht ist oder eine ernstgemeinte Frage.

Ich bin krank. Sehr krank sogar. Krebs haben sie mir gesagt. Und nun weiß ich auch nicht.

Klara nimmt die Hand der Kellnerin und zieht die Frau runter auf den freien Stuhl am Tisch. Ich hatte auch Krebs. Das geht vorbei. Das lässt sich heilen. Lassen Sie einfach alles machen, was gemacht werden muss.

Ist schon zum zweiten Mal, murmelt die Kellnerin und steht wieder auf. Da stehen die Chancen aufs Sterben nicht schlecht.

Darauf kann Klara nichts sagen. Ihr ist der Krebs kein zweites Mal passiert. Wo auch, denkt sie, wo doch keine Brüste mehr da waren. Aber sie weiß natürlich, dass der Krebs sich darum nicht schert. Dann sucht er sich halt andere Stellen im Körper. Aaron legt eine Hand auf Klaras Hand und schaut die Kellnerin an und sagt: Egal, was Sie tun, es wird richtig sein.

Er bestellt bei der Kellnerin zwei Gläser Cidre und einen Eisbecher für Klara. Eis habe ich seit Jahren nicht mehr gegessen, sagt sie und lächelt Aaron an. Jetzt bezahlst du, und ich dann das Abendessen.

Das ist Aaron egal. Sie brauchen nicht mehr auf altmodische Etikette zu achten. Das meiste Geld geht sowieso für dieses Heim drauf. Und den Rest können sie getrost zusammen verprassen.

Kathrin Gerlof, geboren 1962 in Köthen/Anhalt, war lange »nur« als Journalistin bekannt. Doch seit ihrem Debütroman »Teuermanns Schweigen« (2008) hat sie auch als Schriftstellerin einen Namen.

»Alle Zeit« heißt ihr zweiter Roman, der im September im Aufbau-Verlag erscheint. Der Auszug daraus, dem wir die Überschrift »Klara und Aaron nehmen sich frei« gegeben haben, mag schon einmal auf die Lektüre neugierig machen.

Klara im Altersheim: Welches Geheimnis steht zwischen ihr und ihrer toten Tochter Henriette? Auch deren Tochter, Elisa, lebt ja nicht mehr. Wird Klara ihre Urenkelin noch kennenlernen? Wie wird sich ihre Beziehung zu Aaron gestalten, der ihr anfangs nur wie »ein Alzheimer« unter vielen erschien? Wie lange wird ihre Zweisamkeit währen? Und, das Nächstliegende, wie wird ihr Abenteuer verlaufen, sich für eine Nacht im Hotel einzumieten?

»Alle Zeit« – oder keine Zeit? Es kommt auf die Betrachtung an.

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