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Die vierte Teilung

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 5 Min.
Molotow signiert den Nichtangriffsvertrag, hinter ihm Ribbentrop und Stalin
Molotow signiert den Nichtangriffsvertrag, hinter ihm Ribbentrop und Stalin

In Deutschland und in osteuropäischen EU-Staaten ist eine alte wie abstruse Debatte wieder aufgenommen worden. Verantwortlich für den Überfall auf Polen am 1. September 1939 sei der Hitler-Stalin-Pakt. Nicht Hitlers Kriegspolitik hätte zum Zweiten Weltkrieg geführt, vielmehr sei – so die tonangebende deutsche Zeitschrift für osteuropäische Geschichte und Politik – der »aufgrund der vielen Gemeinsamkeiten der beiden Führerstaaten zustande gekommene Stalin-Hitler-Pakt für Millionen Menschen in Osteuropa zu einer Tragödie« geworden. Dieser habe den Weg freigemacht »für die Zerschlagung Polens, die Besetzung des Baltikums, der nördlichen Bukowina und Bessarabiens, für Terror und Deportation, für Völkermord und Klassenmord«. Und ebenso für die »territorialpolitische Ordnung in Osteuropa, die in Jalta festgelegt und zum Fundament der Spaltung Europas wurde«. (»Osteuropa«, 7/8, 2009)

Die historischen Tatsachen widersprechen dieser Interpretation. Die Naziführung hat seit 1933 systematisch und zielgerichtet die militärische, wirtschaftliche und politische Unterwerfung des europäischen Kontinents vorbereitet. Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs haben mit ihrer Appeasement-Politik Hitlers Anspruch auf ein »Großdeutschland« und die Revision der Nachkriegsgrenzen von 1919 begünstigt. Nicht Stalin hat das Münchner Abkommen am 30. September 1938 unterzeichnet. Das waren Daladier und Chamberlain. Der britische Premier, der mit der Tolerierung des Anschlusses Österreichs (März 1938) und der Tschechoslowakei (Oktober 1938 bis März 1939) sowie des Memel-Gebietes an das Deutsche Reich glaubte, den »Frieden in unserer Zeit für das nächste halbe Jahrhundert« gesichert zu haben, saß einem fatalen Irrtum auf. Das Diktat von München hat den Diktator in Berlin zu weiteren Aggressionen ermuntert. Natürlich kann man auch nicht den seinerzeitigen britischen und französischen Politikern die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges zuschieben. Ihre Versäumnisse und Fehlentscheidungen, die eine frühe Anti-Hitler-Koalition verhindert haben, waren jedoch folgenschwer.

Der britisch-französischen Beschwichtigungspolitik, die den deutschen Aggressor nach Osten zu lenken schien, versuchte Stalin eine Politik der kollektiven Sicherheit entgegenzusetzen. Er schlug beiden westlichen Großmächten am 17. April 1939 Verhandlungen für den Abschluss eines Dreimächte-Beistandspaktes samt einer Militärkonvention vor. Da Hitler inzwischen den Nichtangriffspakt mit Polen und das Flottenabkommen mit Großbritannien annulliert hatte, gingen London und Paris darauf ein. Die drei Regierungen einigten sich im Juli 1939, die Sicherheit der von Nazideutschland am stärksten gefährdeten Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Griechenland, Türkei und Belgien) zu gewährleisten. Doch erst am 10. August, nach fünftägiger Fahrt per Schiff, trafen die Militärdelegationen aus Frankreich und Großbritannien in Leningrad ein. Als die Verhandlungen zwei Tage später in Moskau begannen, stellte sich heraus, dass sie nicht mit den nötigen Vollmachten ausgestattet waren und die Frage des sowjetischen Verteidigungsministers Klement Woroschilow nicht beantworten konnten: »Setzen die Generalstäbe Großbritanniens und Frankreichs voraus, dass den sowjetischen Landstreitkräften der Einmarsch auf polnisches Territorium gewährt wird, damit sie in unmittelbare Berührung mit dem Feind treten können, falls er Polen überfällt?« Der spätere britische Premier Winston Churchill urteilte rückblickend: »Nicht einmal im Lichte der geschichtlichen Perspektive kann bezweifelt werden, dass England und Frankreich den russischen Vorschlag hätten annehmen müssen. Hätte beipielsweise Mister Chamberlain nach Erhalt des russischen Vorschlages gesagt: ›Jawohl, vereinigen wir uns alle drei, um Hitler das Genick zu brechen‹ – so wäre das vom Parlament gebilligt worden, Stalin hätte das verstanden und die Geschichte einen anderen Verlauf genommen.«

Nachdem die Verhandlungen mit den Westmächten am 20. August 1939 in eine Sackgasse geraten waren, ging Moskau im Interesse der eigenen Sicherheit auf das deutsche Angebot eines Nichtangriffspaktes ein. Am 21. August erhielt Stalin ein Telegramm von Hitler, in dem dieser heuchelte: »Der Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion bedeutet für mich eine Festlegung der deutschen Politik auf lange Sicht. Das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatzprotokoll kann ... in kürzester Zeit substantiell geklärt werden ...«

Am 23. August einigte sich der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop mit seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow in einem streng geheimen Zusatzprotokoll: »1. Für den Fall einer territorialen-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR. 2. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt.« Ob im »beiderseitigen Interesse« der polnische Staat weiterbestehen werde, wollte man noch »im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen«. Am 17. September fiel die Rote Armee in Ostpolen ein. Der am 28. September geschlossene deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag sanktionierte die vierte Teilung Polens.

Der Hitler-Stalin-Pakt brach Völkerrecht und stand im Widerspruch zu den Ideen und der Praxis des Antifaschismus. Ab 22. Juni 1941 mussten die Völker der Sowjetunion opferreich zahlen für Stalins Irrglauben: »Die mit Blut besiegelte Freundschaft der Völker Deutschlands und der Sowjetunion hat alle Aussicht langandauernd und beständig zu sein.« (24. Dezember 1939) Stalins Komplott mit Hitler hat den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert, aber auch nicht ausgelöst.

Die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls wurde von Moskau erst im Dezember 1989 eingestanden; der Kongress der Volksdeputierte der UdSSR erklärte den Pakt für völkerrechtswidrig.

Geschichtsprofessor Karl-Heinz Gräfe ist Spezialist für Osteuropa.

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