Die Schizophrenie des Westens

Globalisierungskritiker Jean Ziegler: Wir müssen aufhören, so arrogant zu sein

  • Nissrine Messaoudi
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Hass auf den Westen wächst. Schuld daran sei unter anderem die gegenwärtige »kannibalistische Weltordnung des globalisierten Finanzkapitals«, die Hunger und Elend produziere, sagte Jean Ziegler bei der Vorstellung seines neuen Buches am Donnerstag in Berlin.

»Die Sklaverei ist nicht überwunden, sie ist nur moderner geworden.« Jean Zieglers Neuerscheinung »Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren«, die gestern in Berlin vorgestellt wurde, ist voll von provokanten und mutigen Sätzen. Wer jedoch die Dinge radikal beim Namen nennt, stößt meist auf Feindseligkeit. Eine Tatsache, die der Vizepräsident des UNO-Menschenrechtsrats bereits anhand seiner früheren Werke erfahren musste.

»Diese Provokation ist aber gewollt, um die Menschen aufzurütteln«, erklärte Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D.. Oft würden Themen wie Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit an den Rand gedrängt und verharmlost. Ein fataler Fehler, der immer wieder im Scheitern von Verhandlungen zwischen den Ländern aus dem Süden und den führenden Industriestaaten ende.

Obwohl die »weiße Bevölkerung« nur 12,8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, bestimme diese Minderheitsherrschaft über den Rest der Welt, so Ziegler. »Aus Sicht der südlichen Völker ist die globalisierte Finanzordnung mit den Söldnern der Welthandelsorganisation, der Weltbank und der neoliberalen Ideologie eines der mörderischsten Unterdrückungssysteme.« Ein deutliches Beispiel sei Nigeria. Obwohl das Land schwer reich sei, lebten 70 Prozent der Bevölkerung in bitterer Armut. Öl-Giganten wie Shell oder BP beuteten das Land aus. Ferner werde die Korruption, wegen wirtschaftlicher Interessen, vom Westen gefördert – eine Art Herrschaftsinstrument. Aus dieser Demütigung und dem unerträglichen Leid der Völker nähre sich der Hass auf den Westen, der durch vergangene Verbrechen wie Sklaverei und Kolonialismus tief verwurzelt sei.

Der Ruf nach Gerechtigkeit, nach Reue werde auf allen drei Kontinenten Afrika, Südamerika und Asien immer lauter. »Sie haben ein verwundetes Gedächtnis. Der Westen hingegen scheint seine Gräueltaten vergessen zu haben und versteht die Ablehnung des Südens nicht.« Dafür gebe es unzählige Beispiele: Als Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy 2007 Algerien besuchte, wurden die unterschiedlichen Wahrnehmungswelten deutlich. Sarkozys Besuch habe wirtschaftliche Interessen gehabt, da Algerien ein bedeutender Erdölproduzent ist. Bevor die Verhandlungen jedoch überhaupt begonnen hatten, verlangte Algeriens Staatschef Abdelazis Bouteflika von Sarkozy eine Entschuldigung für Setif – 1945 wurden dort während einer friedlichen Demonstration 45 000 Algerier von der französischen Luftwaffe getötet. Sarkozy verweigerte die Entschuldigung. Daraufhin wurden alle Verhandlungen abgesagt.

»Wenn wir nicht aufhören, so arrogant und belehrend zu sein, wird die Lösung von globalen Konflikten immer unwahrscheinlicher«, warnte Ziegler. Auch die Schizophrenie und Doppelzüngigkeit des Westens habe die Vereinten Nationen an den Rand des Ruins gedrängt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verlange man vom Süden, sich an die Menschenrechte zu halten. Gleichzeitig verurteile man beispielsweise die jüngsten Kriegsverbrechen Israels im Gaza-Streifen nicht. Die gleiche Haltung spiegele sich in der Diskussion um Atomwaffen wider. Eine Doppelmoral mit verheerenden Folgen für die ganze Welt, resümierte Ziegler.

Trotzdem hat der Soziologe die Hoffnung auf eine neue Weltordnung nicht aufgegeben, im Gegenteil. »Wenn ich auf Bolivien blicke, wird klar, dass es auch anders geht. Die Dinge können sich ändern.« Boliviens Präsident Evo Morales sei der lebende Beweis dafür. Als erster indigener Präsident habe er mit der westlichen Weltordnung gebrochen. Die bolivianische Bevölkerung profitiere zunehmend von der Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasressourcen. Jetzt müsse auch der Westen endlich Verantwortung übernehmen und Solidarität zeigen, forderte Ziegler.

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