Abends um 19 Uhr ins Bett

Der Alltag von Tagelöhnern ist hart und wer in Berlin-Neukölln keine Arbeit hat, spürt das besonders

  • Martin Weiß
  • Lesedauer: 4 Min.

Arbeitsagentur Berlin-Neukölln: Es ist Donnerstag, 3.30 Uhr. Noch ist niemand da und die Büros sind verwaist. Vereinzelt fahren Autos vorbei und ein Fußgänger schreitet auf die Bushaltestelle zu. Glücklichweise befindet sich am Haupteingang gerade ein Zeitungsausträger. Der deutet auf den Hintereingang. Dort angekommen, brennt im Erdgeschoss zwar Licht in einem Büro, doch auch hier ist die Tür verschlossen und kein Arbeiter anzutreffen. Also schnell zurück zum Zeitungsausträger, ob er weitere Informationen hat. Wir kommen kurz ins Gespräch und er empfiehlt, einfach bis 4 Uhr zu warten. Früher sei sowieso viel mehr los gewesen, 40 bis 60 Tagelöhner hätten sich bereits morgens hier aufgehalten. Mit den Zeitarbeitsfirmen und der Wirtschaftskrise hat sich alles verändert. Heute kommen ungefähr 10 bis 15 Tagelöhner pro Tag zur Vermittlung, denn Jobs gibt es nicht mehr so viele.

Kurz vor 4 Uhr treffen die ersten zwei Tagelöhner ein. Keiner von beiden möchte sich begleiten lassen oder über sich erzählen. Ein dritter trifft ein. Er will mit Michael angesprochen werden. Seinen richtigen Namen mag er nicht nennen. Freimütig erzählt er, dass vor einiger Zeit RTL zur Vermittlungsstelle kam, um über einen Arbeiter zu berichten. Da die Sender nach seiner Aussage wohl »voneinander abgucken«, erschien kurz darauf »Spiegel TV«, um ebenso eine Tagelöhner-Reportage zu drehen.

Michael ist 45 Jahre alt, 1,95 m groß, kräftig. Er trägt eine Brille und einen gepflegten hellblauen Jeansanzug. Um 4 Uhr öffnet ein Mitarbeiter der Arbeitsagentur den Hintereingang. Wir treten in den Wartebereich mit knapp 30 Metallstühlen ein. Die Stühle sind alle in Richtung einer noch mit einem Rollo geschlossenen Luke hin ausgerichtet. Vor der Luke befindet sich ein kleines Kästchen. Hier wirft Michael sein Auslosekärtchen rein. Um 4.30 Uhr wird sich der Arbeitsagentur-Mitarbeiter das Kästchen nehmen, um die zur Verfügung stehenden Jobs mittels der Auslosekärtchen zu verlosen. Bis dahin bleibt noch etwas Zeit zum Reden.

Michael berichtet, gelernter Kaufmann im Baustoffhandel und Heimwerkerbedarf zu sein. Anschließend hat er ein Studium zum Bauingenieur angefangen, selbiges dann aus persönlichen Gründen abgebrochen. Seit 1995 hält er sich nunmehr mit Gelegenheitsjobs über Wasser oder bessert wie derzeit seine Hartz IV-Bezüge auf. Sein Hinzuverdienst darf 120 Euro nicht überschreiten, sonst erfolgt bei ihm eine Anrechnung auf die Hartz IV-Bezüge. In der Vergangenheit hatte ihm die Arbeitsagentur noch eine Schulung im Pflegebereich finanziert, auf die sich ein auf fünfzehn Monate befristeter Arbeitsvertrag im diakonischen Bereich anschloss. Hierauf folgte wieder die Arbeitslosigkeit.

Zwischenzeitlich begrüßt Michael Andreas. Sie kennen sich, da sie mal gemeinsam bei einem Auftraggeber eingesetzt wurden. Es kommt manchmal vor, dass eine Firma mehrere Personen anfordert. Andreas ist Mitte 40, hat einen wachen Blick und macht einen durchtrainierten Eindruck. Von Haus aus ist er Bäcker und hat früher vornehmlich im Bäckereigewerbe gearbeitet. Jetzt findet er in diesem Bereich keine Arbeit mehr. Seit anderthalb Jahren kommt Andreas daher regelmäßig – auch im Herbst und im Winter – zur Tagelöhner-Vermittlung, wenn er nicht gerade bei einem Auftraggeber »kleben geblieben« ist. »Kleben geblieben« ist der Ausdruck dafür, statt für einen Tag länger bei einem Auftraggeber tätig zu sein. Das können fünf Tage oder drei Monate sein. Darauf angesprochen, was er sich für seine Zukunft wünscht, herrscht Schweigen, während seine Augen feucht werden. Schließlich antwortet er, gerne wieder in einer Festanstellung arbeiten zu wollen, worauf Michael einwirft, die Hoffnung diesbezüglich aufgegeben zu haben.

Mittlerweile ist es 4.40 Uhr. Michael hat Glück, sein Auslosekärtchen wurde gezogen. Er wird heute in Berlin-Buch als Aushilfe auf dem Bau tätig sein. Wir laufen gemeinsam zur S-Bahn Station Köllnische Heide, fahren nach Südkreuz, steigen um in die S-Bahn Richtung Bernau und verlassen die S-Bahn in Buch. Nach zehn Minuten Fußweg treffen wir um 8 Uhr vor dem vierstöckigen sanierten Altbauhaus ein.

Der Auftraggeber gibt Michael und einer weiteren Aushilfe eine kurze Einweisung. Gipskartonplatten für den Innenausbau sollen montiert werden. Hierfür ist es notwendig, die auf fünf Paletten gelagerten Gipskartonplatten auf die Räume, unter Einsatz des Lastenaufzugs, zu verteilen. Die Arbeit ist staubig und die Gipskartonplatten sind zwar nicht schwer, dafür recht unhandlich. Gegen 11.30 Uhr wird eine halbstündige Pause eingelegt. Um 13.30 Uhr ist die Arbeit erledigt. Michael erhält für die geleistete Arbeit 45 Euro.

Wir verabschieden uns. Michael wird für seine Heimfahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ungefähr eine Stunde benötigen. Zuhause angekommen wird er noch eine Kleinigkeit einkaufen, sich etwas Essen zubereiten und gegen 19 Uhr ins Bett gehen, damit er morgen früh um zwei Uhr halbwegs ausgeschlafen ist, wenn sich der Tagesablauf wiederholt.

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