Eine nackte Partei in innerem Unfrieden

Debatte wird zum Generalverriss von elf Regierungsjahren / Enttäuschung über Müntefering-Rede

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Erst zuhören, dann loslegen
Erst zuhören, dann loslegen

Der angestaute Unmut war enorm: Über 50 Redner machten nach einer zumeist als enttäuschend empfundenen Rede Franz Münteferings ihrem Ärger über den Zustand der SPD Luft.

Namen sind manchmal doch Vorzeichen. Ausgerechnet Harald Unfried aus Landshut wurde als erstes ans Rednerpult gerufen, nachdem Franz Müntefering kurz vor zwölf seine letzte Rede als Parteivorsitzender der SPD beendet hatte. Immerhin dreieinhalb Minuten hatten die Delegierten geklatscht, die meisten im Stehen. Sie erwiesen einem Mann Respekt, der seit 44 Jahren für die Partei ackert. Seiner Leistung als Parteichef und Vizekanzler galt der Applaus kaum – das stellte Genosse Unfried klar.

Es gebe, sagte der bayrische Delegierte, in der SPD zwei Realitäten. Eine sei die »monolithische« von Parteitagen und Vorstandssitzungen: Im Grunde, so laute sie, mache man alles richtig, nur werde manches vielleicht nicht richtig erklärt. Die andere Realität sei die »draußen im Lande«, wo es für die Rente mit 67 und Hartz IV wie für mehr Leiharbeit und den Afghanistan-Einsatz »niemals Mehrheiten gegeben« habe. Die SPD müsse die Realität wieder auf ihre Parteitage lassen, sagte der einstige bayrische Jusochef: »Sonst kommen wir aus dem Tal nicht heraus.«

In der Dresdner Messe, die ironischerweise auf dem Gelände des alten Schlachthofs steht, wurden Parteitag und Vorstand nun mit Macht von der Realität und dem geballten Unmut der Basis eingeholt. Zwar scheiterte eingangs ein Versuch der Delegierten aus Bayern, die Parteitagsregie noch einmal zu kippen und die Kür der neuen Parteispitze hinter die Debatte zum Leitantrag zu schieben. Statt dessen wurde die Aussprache zu Münteferings Rede zum Ventil.

Der Leidensdruck, der sich dabei entlud, war enorm. Über 50 Namen umfasste die Rednerliste, und praktisch jeden der Fünf-Minuten-Beiträge dürften Müntefering und der bisherige SPD-Führungszirkel als Ohrfeige empfunden haben. Gescholten wurden die Politik der SPD wie ihr innerer Zustand. Müntefering habe darüber gesprochen, wie notwendig Solidarität in der Gesellschaft sei, merkte eine hessische Genossin an: »Und wie wurde mit Kurt Beck umgegangen?!« Der Vorgänger Münteferings, der sich nach dessen Rede auffällig schnell wieder auf seinen Stuhl im Präsidium setzte und das Klatschen einstellte, war im Sommer 2008 aus dem Amt geputscht worden.

Und Beck war ja kein Einzelfall. Er habe, merkte ein Delegierter an, in den Jahren seiner Mitgliedschaft zehn Amtswechsel bei den Parteivorsitzenden miterlebt: »Nur einer war ordentlich«, womit Schluss sein müsse. Ob das Gehör findet, ist fraglich. Es sei »nicht optimal«, wie »jemand« im Augenblick der tiefsten SPD-Krise zum Fraktionschef geworden sei, merkte jemand in Anspielung auf die Selbstkür von Frank-Walter Steinmeier am Wahlabend an. Und auch die Kür der künftigen Parteiführung nannten manche »Postenpiraterie«.

Einem Generalverriss wurde indes vor allem die Politik unterzogen, für die Müntefering stand. Es sei wie mit dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, sagte der Rostocker Christian Reincke: Jahrelang habe die Partei etwa die Sozial- und Arbeitsmarktreformen als »ihr neues Kleidchen« gepriesen; jetzt stelle sich heraus: »Die SPD ist nackt!« Der einstige Juso-Bundesvize griff den scheidenden Parteichef direkt an: Die von diesem mitverantworteten Reformen seien nicht nur sozialpolitisch verheerend, sondern auch wirtschaftlich falsch gewesen. Die ökonomischen Zusammenhänge, fügte er an, seien »etwas komplizierter, als das die Volkshochschule Sauerland erklärt, lieber Franz«.

Derlei offene Anwürfe waren am Rednerpult, das inmitten der Delegierten stand, eher die Ausnahme. In den Gängen indes gab es große Unzufriedenheit mit Münteferings Abschiedsrede. Er habe »kein Fitzelchen Selbstkritik« gehört, murrte ein sächsischer Gewerkschafter; er sei beim Applaus nicht wie die meisten Delegierten aufgestanden, »weil ich das emotional nicht erhebend fand«, ergänzte ein Landtagsabgeordneter, der ebenfalls jegliche Selbstkritik vermisst hatte. Müntefering, hieß es, habe wie immer brilliant analysiert, aber jeden Bezug zu den Fehlern in der Regierungszeit vermieden: »Wie kann man über Kinderarmut reden und Hartz IV nicht erwähnen?!«, fragte ein Besucher, der Münteferings Rede als Zumutung empfand: »Bloß gut, dass der weg ist!«

Die Frage, ob es der Neue besser macht und ob er die beiden Realitäten der SPD wieder zur Deckung bringt, wird dagegen abwartend beantwortet. Erstmal, heißt es, sei Sigmar Gabriel schlicht derjenige, der »übrig geblieben ist«. Gabriels Name wird übrigens mit »Mann oder Held Gottes« übersetzt. Aber Namen sind auch bei der SPD nur manchmal Vorzeichen.

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