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  • Bücher zum Verschenken 2009

Ein sorbischer Sansculotte

Jurij Koch über gespensternde Ideale

  • Thomas Bruhn
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Wiederkehr als ein anderer, das ist es, was sich aus der Lektüre eines guten Buches ergibt, schrieb Johannes R. Becher. Nur Weniges aus der ungeheuren Warenansammlung erfüllt diesen Anspruch. Jurij Koch legte im Domowina-Verlag eine Erzählung auf Deutsch vor, die Anfang des Jahres schon auf Sorbisch erschien. Es ist die Geschichte eines Kuhhirten, eines armen Luders von 19 Jahren, namens Jurij Rycer, richtig George Rietscher, der weder lesen noch schreiben lernen konnte, weil die Eltern meinten, er müsse das nicht. Dabei wäre er gern mit den anderen über des Pfarrers Aue ins Nachbardorf zur Schule gelaufen. Dass ihm vieles verboten war, fast alles, hat ihm nie gefallen, und ihm sind Gedanken gekommen, verschiedene Vorstellungen.

Wir schreiben das Jahr 1794. Jurij Rycer wird auf einem Pferdefuhrwerk von Bautzen nach Zescha gefahren, wo ihm der Kopf abgeschlagen werden soll; ein Weg von drei, eher vier Stunden, auf dem er uns sein Leben erzählt: Wie er sich in Adela verliebte, die Tochter des Bauern; wie er der Sau die in Milch schwimmenden Kartoffeln wegaß; wie er einen Gulden für eine neue Hose bekam und der ihm abgenommen wurde; und wie Pfarrer Zysch sagte, dass er lesen lernen sollte, weil ihm das nützen würde. Wenn er nicht in die Schule gehe, werde er ihm die Buchstaben und Zahlen nach der Messe beibringen. Die ersten Ziffern, die der Pfarrer Jurij lehrte, standen auf einem steinernen Kruzifix am Wegesrand: 1, 7, 8, 9.

Jurij Koch erzählt ohne Pathos, scheinbar auf einfachste Art und Weise, eine Geschichte von Liebe und Betrug vor historischem Hintergrund, die wegen ihres Ausganges und wegen der kargen Sprache ans Herz geht. Er erzählt sachlich, spröde und gewährt uns so viel Platz für Fantasie. Keinen Zweifel lässt der Autor, selbst Kind kleiner Leute, dass er auf der Seite der Michael Kohlhaases steht. Jurij Rycer wird vom Hof gejagt, verfluchter Sansculotte, schimpft der Bauer, weil er ein Milchdieb sei, und Adele dürfe ihm nie wieder hinterherlaufen auf die Weiden. So weit wie in Frankreich wird es in Sachsen nicht kommen, niemals, in Brandenburg auch nicht. Jurij kamen Gedanken, verschiedene Vorstellungen: Dass die große Freude beginnen konnte, als die Sansculotten aufhörten zu jammern. Zu einer Geschichte gesellt sich eine weitere Ebene, aus einer Geschichte wird Literatur. Die Jahreszahl offenbart uns das Geheimnis des Textes: 1789.

Warum holt uns Jurij Koch diese Zeit ins Heute? Weil die Ideale der Französischen Revolution noch immer unerfüllt durch diese Welt gespenstern, weil nach all den Irrungen und Wirrungen sich vielleicht bei den Wurzeln ein neuer Anfang finden lässt. Für Sachsen, für Brandenburg und auch für Frankreich.

Jurij Koch stellt Fragen, die nur wenige sich trauen heuer zu stellen, und er stellt sie in glockenreinem Deutsch, wie es scheinbar noch weniger Leute heutzutage in der Lage sind zu schreiben. Insofern ist »Am Ende des Tages« auch ein großes Sehnsuchts- und Hoffnungsbuch.

Die Wiederkehr als ein anderer? Die Jubelfeiern zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls sehen mich seltsam ungerührt; eine Stunde der Ideologen, eine Zeit baut ihre Pyramiden. Die Erzählung hat mich ermutigt, dieses Jubiläum zum Anlass zu nehmen, die frische Luft von damals in die Lungen zu holen und die Widerspenstigkeit, weil es irgendwann gilt, das nächste Sträußchen auszufechten, um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Jurij Koch: Am Ende des Tages. Roman. Domowina. 120 S., geb., 12,90 €.

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