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Von Berlinchen nach Berlin

Der Weg des genialen Schachweltmeisters Emanuel Lasker

  • Reiner Stach
  • Lesedauer: 4 Min.

Menschen mit vielfachen Begabungen sind eine seltene, aber um so nachhaltigere Provokation des gebildeten Publikums. Künstler, die zugleich Erfinder sind (Leonardo da Vinci), Philosophen, die als Mathematiker hervortreten (Leibniz) oder Musik komponieren (Adorno), ganz zu schweigen von Politikern, die schreiben können (Churchill) – solche Multitalente machen es schwer, ihrer verzweigten Kreativität gerecht zu werden und dennoch die Konturen einer unverwechselbaren »Persönlichkeit« auszumachen. Das Bedürfnis, komplizierte Menschen durch die Zuweisung von Labels eindeutiger und damit greifbarer zu machen, ist mächtig.

Erst recht dann, wenn es um hochspezialisierte intellektuelle Leistungen geht, die einer breiteren Öffentlichkeit kaum zugänglich sind. Ein solcher Fall – ein im 20. Jahrhundert wohl unvergleichlicher Fall – war Emanuel Lasker (1868-1941), fast drei Jahrzehnte lang der weltweit beste Schachspieler. Selbst seinen Gegnern, die seine Leistungen am besten einzuschätzen wussten, blieb dieser Fall ein lebenslanges Rätsel. Denn Lasker war zwar professioneller Spieler, doch alles andere als ein Schachmaniac: Es kam vor, dass er für Jahre von der Bühne der großen Turniere verschwand, um dann mit derselben Überlegenheit zurückzukehren, fast ohne Vorbereitung, als pflege er ein Hobby auf hohem Niveau. Womit hatte er sich in der Zwischenzeit beschäftigt? Mit Mathematik und Philosophie, mit Go und Bridge.

Lasker war der Sohn eines jüdischen Kantors und Tischlers und verbrachte die ersten Lebensjahre in der Kleinstadt Berlinchen in Westpommern (heute Barlinek). Die Erziehung zur jüdischen Religion hinterließ allerdings keine sichtbaren Spuren: Bereits mit elf Jahren übersiedelte er unter der Obhut seines älteren Bruders Bertold nach Berlin, und im Treibhaus der großstädtischen Bohème wurde es ihm leicht gemacht, sich dem Mainstream der jüdischen Assimilation anzuschließen – inklusive jenes naiven, national getönten Fortschrittsglaubens, der bis 1914 unter gebildeten Berliner Juden obligatorisch war. Lasker war, wie sich früh zeigte, nicht nur eine eminente theoretische Begabung, sondern auch überaus pragmatisch: Konflikten, die sich nicht als »Probleme« im Sinne lösbarer Aufgaben formulieren ließen, ging er gern aus dem Weg – der wohl wichtigste Grund dafür, warum er die Frage der jüdischen Identität solange ignorierte, bis sie zu einer Überlebensfrage wurde.

Mit 23 Jahren traf Lasker die wichtigste Entscheidung seines Lebens: Er brach sein Mathematikstudium ab und wurde Schachprofi. Damit entschied er sich nicht nur für einen Beruf, sondern für eine Lebensform. Denn von nun an war er genötigt, seinen Wohnsitz dort zu nehmen, wo für Schach bezahlt wurde, für Wettkämpfe auf hohem Niveau wie auch für die tägliche Mühsal des Schachunterrichts und der Simultanvorstellungen. Lasker verbrachte Jahre in England, in Holland, in den USA, in Südamerika und schließlich auch in Russland. Diese nomadenhafte Existenz – von manchem als »kosmopolitisch« beneidet – machte jedoch alle seine Versuche zunichte, Anerkennung auch außerhalb der Schachszene zu finden. Während die Öffentlichkeit ihn als genialen Spieler und seine Leistungen als gutes Entertainment schätzte, machte Lasker ebenso hartnäckige wie vergebliche Anläufe, sich als Wissenschaftler und Homme de lettre zu präsentieren: Er verfasste mathematische Aufsätze, populärphilosophische Schriften und sogar ein Theaterstück, ohne damit mehr zu ernten als kurzfristige Achtungserfolge. Die ersehnte Anstellung als Dozent blieb ihm versagt, noch in seinen letzten Jahren, die er in New York verbrachte, lebte er – sehr bescheiden – von seinem Ruf als Legende des Schachs.

Das Vermächtnis einer derart zersplitterten und dennoch hochproduktiven Existenz zu sichern, ist im Grunde nur als kollektive Anstrengung denkbar. Die Herausgeber der monumentalen Lasker-Monografie entschieden sich daher zu Recht für die kompromisslos aufwändigste, doch einzig befriedigende Lösung: Der Band bietet einerseits eine lückenlose Bilanz – alle Turnierpartien, alle Publikationen Laskers sind verzeichnet –, andererseits wurden die einzelnen Beiträge von (natürlich schachspielenden) Spezialisten verfasst. Das grandiose Mosaik zeigt die heiteren wie die tragischen Züge des Autodidakten, die Lust am Spiel und die Lust am Denken. In der heutigen Expertenkultur hätte dieser notorische Selbstdenker wohl nicht bestehen können. Er war der letzte Amateur, der es zum Weltmeister brachte.

Richard Forster/Stefan Hansen/Michael Negele (Hg.): Emanuel Lasker. Denker, Weltenbürger, Schachweltmeister. Exzelsior, Berlin. 1097 S., geb., 114 €.

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