nd-aktuell.de / 28.11.2009 / Kultur / Seite 20

Vom Blühen und Welken der Bilder

Vincent van Gogh und seine Pilgerreise zur Sonne

Gunnar Decker
Die Kunst ist der letzte Hort gegen das Unheil. Da hört die Malerei auf, Mittel zu sein. Da werden Bilder zu Schreien, die man mit letzter Kraft melodisch machen möchte. (Julius Meier-Graefe)
Vierzehn Sonnenblumen in einer Vase – van Gogh malte dieses Bild im Januar 1889 in Arles.
Vierzehn Sonnenblumen in einer Vase – van Gogh malte dieses Bild im Januar 1889 in Arles.

Wie soll man eine Malerbiografie schreiben, die zugleich eine Biografie seiner Bilder ist? Die Vorstellungen darüber scheinen sich gewandelt zu haben. Vor dem Ersten Weltkrieg brachen Schriftsteller wie Julius Meier-Graefe – mit seinen verschiedenen Arbeiten zur Avantgardekunst dem historisierenden Wilhelminismus ein Ärgernis! – der modernen Kunst die Bahn ins öffentliche Bewusstsein. Sein Buch »Vincent van Gogh. Roman eines Gottsuchers« kontrastiert höchst eigenwillig rasende Modernität mit den Begriffen Mythos und Legende, verstanden nicht etwa als bloße Halbwahrheiten, sondern als beispielhaftes Wissen vom Ursprünglichen. Kunsthändler wie Gustav Pauli und Paul Cassirer setzten die modernen Bilder in spektakulären Ausstellungen gegen den herrschenden Geschmack durch.

Heute hat sich der Trend umgekehrt – da wird die moderne Kunst entweder bloß noch kunstwissenschaftlich verwaltet oder man entfaltet einen aktionistischen Eifer, der absurd wirkt, so wie in Stefan Koldehoffs Büchern zu Vincent van Gogh. Infotainment im Stile einer polizeilichen Ermittlung, der jede »Legende«, jeden »Mythos« als Fehlerquelle der Wissenschaftlichkeit zu tilgen versucht. Eine Verhöhnung solch ausdrucksstarker Vorreiter der Moderne wie Meier-Graefe geht damit einher, eine Infantilisierung der Bildbetrachtung ebenfalls. Manch einer scheint überhaupt nicht die van Goghs Kunst völlig unangemessene Banalität zu bemerken, wenn er mit aller Pedanterie etwa die These zu beweisen unternimmt, dass sich van Gogh möglicherweise nicht das ganze Ohr, sondern nur einen Teil davon abgeschnitten habe. Lässt sich so die Wahrheit über sein Leben, gar über seine Bilder finden? Woher kommt denn überhaupt deren faszinierende Kraft? Mir scheint, wir stehen an einer Wegscheide im Umgang mit der Kunst.

*

Vincent van Goghs Bilder tauchen alles, was lebt, in ein flammendes Licht. Erhellen das Dunkel, wie sie die falschen Gewissheiten verbrennen. Eine »elektrische Wachheit« pulst hier, farbige Bildspannung von so hoher Intensität, dass sich das Bild gleichsam ablöst von aller Außenwelt und zu seiner eigenen Welt wird.

Julius Meier-Graefe provoziert zu Beginn des 20. Jahrhunderts den herrschenden Wilhelminismus. Er fragt, was Vincent van Goghs Bilder von innen her zu solch starkem Leuchten bringt. Seine Antworten beschäftigen die Kunstwissenschaft bis heute. Dabei ist für ihn dieser Maler niemals ein im freien Raum schwebendes Künstlergenie, wie man ihm immer wieder unterstellt. Vielmehr heißt es bei ihm: »Vincent van Goghs Anschauung wird von Anfang an von einem tiefgreifenden Sozialismus bestimmt. Man denke an keine enge Formel, nicht an die Theorie, zu der sich Proudhons großer Freund Courbet hergab, auch nicht an die duftende Lehre der englischen Volksbeglücker à la Morris und Crane, die ach so weit vom Schuss sind, auch nicht an die Armeleutemalerei, die bei uns in Deutschland zur Erbauung der Gefühlvollen betrieben wurde. Was sich van Gogh darunter dachte, war die nackte Tat eines schönen Menschen: Mitteilen! Nichts ist merkwürdiger, als dass dieser in jedem Schritt Persönliche, der alles aufs Spiel setzte, um dem eigenen Instinkt zu folgen, aus einer Seele heraus schuf, in der für den Ehrgeiz des Artisten kein Platz war ... Er blieb, was er von Anfang war: der Mensch, der sich mitteilen wollte.«

Das, was Meier-Graefe »Animalkunst« nennt, meint den von Nietzsche geforderten existenziellen Bezug aller Kunst, ihre explosive Unmittelbarkeit. Ein Brief, den der junge expressionistische Dichter Georg Heym am 2. September 1910 an John Wolfsohn schreibt, zeigt, wie Vincent van Gogh die am stärksten schöpferischen Gestalten des beginnenden Jahrhunderts zu Eigenem aufstachelt. Überwältigend dreist und dabei doch auf anrührende Weise demütig den Ingredienzien der Verwandlung gegenüber: »Zuerst einmal meinen besten Dank für den mitgenommenen (sprich aus versehen in den Händen behaltenen) van Gogh. Ich finde, daß dieser mir vielleicht noch adäquater ist wie Hodler. Denn er sieht alle Farben so, wie ich sie sehe. Ich habe beim Lesen mir soundso oft gesagt: Donnerwetter, genauso würdest Du ein Gedicht machen: die Matrosen vor der Sonnenscheibe. Die lila Kähne. Der Sämann in einem unendlichen Feld, etc. Nur: daß Malen sehr schwer ist. Und dichten so unendlich leicht, wenn man nur die Optik hat.«

Die Ernüchterung dauert nur kurz. Als Vincent van Gogh am 20. Februar 1888 aus dem kalten Paris nach Arles in den warmen Süden Frankreichs flieht, herrscht da tiefster Winter. Erschrocken schreibt er an seinen Bruder Theo in Paris: »Nun will ich Dir erzählen, dass hier zu meinem Empfang überall 60 cm hoch Schnee liegt, und es schneit immer noch.« Arles hält zu Vincents Begrüßung den kältesten Winter seit achtzehn Jahren parat. Zwei Wochen lang kommt er überhaupt nicht zum Malen. Sein erstes Fazit: »Hier friert es Stein und Bein.« Dabei hoffte er doch, in Arles sein Japan zu finden, sein »Atelier des Südens« – eine Art Malerkommune unter freiem Himmel!

Im März jedoch beginnt ein explosionsartiges Blühen! Er malt wie im Rausch. Welch lebenserweckende Kraft besitze doch die Sonne, jubelt er. Was jetzt folgt, ist eine einzige Anbetung des südlichen Lichts. Und die Blume, die ihm zu dieser Intensität zu passen scheint, ist die Sonnenblume. Ihr gelber Kranz aus Blüten, ihre ballförmige Größe und die kreisrunde Form – all das macht sie zum Sonnensymbol. Eine Symphonie in Gelb! An seinen Bruder Theo schreibt er: »Ich wollte noch mehr Sonnenblumen malen, aber sie waren schon verblüht.«

Er malt sie gleich in einem halben Dutzend Varianten, um damit das »Gelbe Haus«, das er sich in Arles angemietet hat, für die Ankunft Gauguins zu dekorieren. Manchmal wagt er jetzt auch kurze Seitenblicke auf die Schatten, die die Kleinstadtenge von Arles wirft, und schaut dann lieber schnell wieder weg: »Schmutzig ist diese Stadt mit den alten Straßen!« Und die Menschen sind auch recht lethargisch, lassen alles gleichgültig auf sich zukommen. Das steht quer zu Vincents stürmendem und drängendem Temperament. Aber noch versucht er es zu ignorieren, feiert er die Sonne. Obwohl, manchmal notiert er bereits erstaunt, dass es doch sehr wenig Blumen gebe im Süden, dass alles so furchtbar schnell verdorrt.

Er sucht die »Magie der Farben«, weiß, das Auge muss, um die Sonne zu sehen, selbst sonnenförmig sein. Es gibt eine Welt außen und eine innen – und beide stehen in einem geheimnisvollen Verhältnis zueinander, das der Maler immer wieder neu in Form und Farbe zu bringen versucht.

Die Sonnenblumen offenbaren Vincents neues Verhältnis zur Schönheit. Sie ist ihm etwas, das in den natürlich Kreislauf von Werden und Vergehen gestellt ist. Eine Frist. Zwischen »Sämann« und »Schnitter«, Geburt und Tod, ereignet sich die Blüte. Und dann beginnt schon das Welken. Weil Vincent nicht auf naive Weise schönmalt, sondern das Symbol für die Sonne in der Blume sucht, bekommen die Bilder der Sonnenblumen etwas Abgründiges. Es sind eben nicht nur Abbilder, sondern zugleich Urbilder. Wer genau hinschaut, bemerkt die aggressive Haltung der Blütenblätter, die den Betrachter gleichsam mit ihrer kurz vor dem Ausbruch stehenden Hässlichkeit des Verwelkens abstoßen wollen. Diese in der Vase nur kurze Zeit blühenden Sonnenblumen stemmen sich gegen ihr Vergehen – vergeblich. Dass hier ein Kampf stattfindet, dessen Ausgang bereits feststeht, grundiert die »Sonnenblumen« mit Melancholie. Etwas von Baudelaires »Blumen des Bösen« offenbart sich in diesen Blütenformen, die den Samen für etwas Unheilvolles bergen. Die Sonne verbrennt auch Leben, sie schöpft und vernichtet zugleich. Weil sie dennoch blühen, werden die Sonnenblumen zu Symbolen einer Hoffnung, die nichts Banales hat.

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Ich betrachte seine Bilder und spüre: Ich werde erblickt. Mein Sehen, das doch sonst gewohnt ist, sich das Gesehene unterzuordnen, es zu einem Teil meiner Welt zu machen, kapituliert vor der Übermacht seiner Bilder. Dieser Blick ist stärker als der meine, er kommt von weit her und drängt dichter heran, als es mir angenehm ist. Vincents Bilder wollen den sie Betrachtenden nicht lassen, wie er ist, aber sie geben ihm nichts vor als eine große Unruhe angesichts seiner schmalen Vernunft.

Mit Vincent van Gogh bricht die Vanitas-Dimension des Barock ein in die Banalität der Moderne. Sie gibt uns das Gefühl dafür zurück, dass die Frist, die uns bleibt – dem Einzelnen wie dem Ganzen –, kurz ist. Vincent malt Erwartungsvisionen. Sie sollen seine Angst bannen. Wir sehen plötzlich, was uns fehlt, aber auch, woran wir nicht mehr glauben können. Gott ist abwesend, das wird zur einzigen, dem modernen Menschen noch möglichen Glaubenserfahrung, einer heftigen Absage an die konfessionell verwaltete Lüge von Gottes Anwesenheit. Diesem Wahrheitsschmerz folgen Vincents Bilder nach, mit einer Intensität, zu der nur ein Suchender fähig scheint, der das Ziel dieser Suche immer schon in sich trägt. Das Göttliche reduziert sich hier auf einen lebensspendenden Funken – aber einen, der alles durchdringt, alles verwandelt.

Eine große Lebensfeier, die sich – und uns – nicht um den Lebensschmerz betrügt. Aus dem Gestorbenen keimt Neues.

Nach zwei Jahren im Süden wächst die Sehnsucht nach Schatten. Das südliche Licht ist ihm nun zu grell. Er hält es nicht mehr aus. Nach seinem Zusammenbruch in Arles folgt das Jahr freiwilliger Internierung im Irrenhaus von Saint-Rémy. Er malt »Erinnerung an den Norden«. Satte Farben, dunkle Erde, tiefe Himmel. Im Frühjahr 1890, wenige Monate bevor er am 27. Juli auf sich schießt und zwei Tage später stirbt, zieht er nach Auvers unweit von Paris. Hier steht er unter der Aufsicht Doktor Gachets. Ein Kauz von einem Arzt, der nicht nur moderne Kunst sammelt, sondern auch selber malt. Wer hier eigentlich der Verrücktere sei, das sei noch sehr die Frage, notiert Vincent.

Der Sommer naht und mit ihm kommen die Gewitter. Schwere unheilvolle Himmel, in die Vincent seine Vision des Untergangs hineinmalt. »Kornfeld mit Krähen« ist eines seiner letzten Bilder. Der Traum vom Süden ist da bereits ausgeträumt, die Ernte, die dennoch reichlich war, eingefahren. Und nun wiederholt sich noch einmal die Hitze des Sommers, doch Vincent erträgt sie nicht mehr. Die Vögel beginnen zu drohen. Wie eine dunkle Gewitterwolke zieht der Schwarm von Krähen heran. Antonin Artaud hat Vincents Selbstmord mit dem Bild der Krähen verknüpft: »Ein Strom von Krähen in den Fasern seines inneren Baumes, überschwemmten sie ihn mit einem letzten Aufbrausen und seinen Platz einnehmend, töteten ihn.«

Starb Vincent van Gogh durch eigene Hand, eben weil er keinen bürgerlichen Tod sterben wollte – nicht den Weg gehen konnte, den seine Bilder in Auktionshäusern heute nehmen? Das Anlagepapier der etwas anderen Art? Doch befreien diejenigen, die das Aufbrechende wie das Absterbende in seinen Bildern heute immer noch in physischer Direktheit spüren, nicht seine Bilder – und sei es über zweitklassige Reproduktionen – wieder aus dem Gefängnis der finanziellen Spekulation?

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Welche Kraft durchpulst seine Bilder bis heute? Um sie zu finden, muss man sie suchen – in dem, was das Gezeigte verbirgt. Und vor allem sollte man auch die Briefe Vincents an Theo lesen. Denn in – und mit! – diesen Briefen wehrt er sich gegen seinen drohenden Untergang, mit all der Energie, die er zu entwickeln vermag. Ein Außenseiter, ein Ketzer, der seinen Weg zu Gott geht. Seit seiner Zeit bei den ausgebeuteten Bergarbeitern der Borinage findet er ihn bei den Elenden, den Missachteten. Mehr noch: in jedem Tier, in jeder Pflanze, schließlich in Licht und Dunkelheit. Dieser Pantheismus, den er malt, gibt noch den profansten Gegenständen ihre Faszination. In ihnen bleibt immer eine Kraft spürbar, die auf Veränderung drängt: hin zur Blüte oder zum Welken. So entstehen Symbole des Lebens wie des Todes, die ihre irritierende Gegenwärtigkeit bis heute behalten haben. Lauter magische Verwandlungsakte, die gleichzeitig von innen wie von außen kommen, sichtbar ebenso wie unsichtbar bleiben. Ist Vincent ein Franziskus der modernen Malerei?

Gunnar Decker veröffentlichte kürzlich den Band »Vincent van Gogh. Eine Pilgerreise zur Sonne« (Matthes & Seitz Berlin, 345 S., geb., 24,90 €). Die Abbildungen auf dieser Seite sind dem Buch entnommen.

Oben- und nebenstehendes Bild sind im Besitz der Vincent van Gogh Stiftung. Sie befinden sich im Rijksmuseum Amsterdam.

Selbstbildnisse, im Herbst 1886 in Paris entstanden
Selbstbildnisse, im Herbst 1886 in Paris entstanden