Der Letzte aus dem Osten

»Thüringer Allgemeine«: Streit um Chefredakteur eskaliert

  • Hans-Gerd Öfinger, Erfurt
  • Lesedauer: 3 Min.

Für erhebliche Unruhe in der Thüringer Zeitungslandschaft sorgt in diesen Tagen die Meldung von der überraschenden Abberufung des langjährigen Chefredakteurs der zum Essener WAZ-Konzern gehörenden Tageszeitung »Thüringer Allgemeine« (TA), Sergej Lochthofen. Nachfolger Lochthofens in Erfurt ist seit Mittwoch Paul Josef Raue (59), bisher Chefredakteur des WAZ-Ablegers »Braunschweiger Zeitung«. Damit wurde der ursprünglich für den 1. Januar 2010 vorgesehene Wechsel in aller Hektik bereits am gestrigen Mittwoch vollzogen.

Der 56-jährige Lochthofen solle »eine andere Aufgabe innerhalb der WAZ-Mediengruppe übernehmen, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht«, erfuhren erstaunte TA-Leser aus der Freitagsausgabe des Blatts. Gleichzeitig abberufen wurde Lochthofens Stellvertreterin und Ehefrau Antje-Maria Lochthofen, bisher Ressortleiterin für die Thüringen-Seiten. Für sie werde eine »einvernehmliche Lösung« angestrebt, so die WAZ-Zentrale.

Diese Veränderung sei Teil eines »seit längerem andauernden Erneuerungsprozesses« innerhalb der Zeitungsgruppe Thüringen (ZGT), so die Konzernzentrale im fernen Ruhrgebiet. Zum Anzeigen- und Vertriebsverbund ZGT gehören die TA mit Sitz in Erfurt, die »Ostthüringer Zeitung« (OTZ) mit Sitz in Gera und die »Thüringische Landeszeitung« (TLZ) mit Sitz in Weimar, die alle Anfang der 1990er Jahre von der WAZ-Gruppe übernommen wurden.

Dass Raue auf Anweisung der WAZ-Zentrale wider Erwarten so schnell von Braunschweig nach Erfurt eilen musste, hat offenbar mit der aufmüpfigen Stimmung im TA-Verlagshaus und bei der Leserschaft zu tun. »Die Telefone stehen nicht mehr still. Zudem gehen unzählige Briefe und E-Mails aus den verschiedensten Teilen Ost- und Westdeutschlands ein, in denen große Betroffenheit, Kritik und Unverständnis für die Entscheidung geäußert werden«, hieß es am Mittwoch auf der TA-Website.

Der 1953 in Workuta geborene Sergej Lochthofen, durch regelmäßige Auftritte im ARD-Presseclub bundesweit bekannt, ist Sohn eines deutschen Kommunisten, der in Stalins Lagern saß. Als Redakteur des Erfurter SED-Organs »Das Volk« wurde er Anfang 1990 von der Belegschaft zum Chefredakteur gewählt. Das Blatt wurde in der damaligen Umbruchzeit in »Thüringer Allgemeine« umbenannt und sollte eine wahrhaft unabhängige Zeitung werden. Nach seinem unfreiwilligen Abgang gibt es nach Gewerkschaftsangaben keinen aus Ostdeutschland stammenden Chefredakteur in einer großen ostdeutschen Regionalzeitung mehr.

Lochthofens Popularität speist sich aus journalistischer Qualität und der Tatsache, dass er nach Aussage langjähriger Beobachter »weitaus weniger stromlinienförmig« ist als andere Chefredakteure in vergleichbaren Positionen. Damit war er offensichtlich den WAZ-Lenkern ein Dorn im Auge.

Auslöser der Abberufung dürften nach Gewerkschaftsangaben Konzernpläne zur Einführung von Desk-Modellen bei der TA nach WAZ-Muster sein, gegen die sich Lochthofen gewehrt haben soll. Desk-Modelle wurden bei vielen Regionalblättern eingeführt. Ihre Kritiker bemängeln eine zunehmende Trennung zwischen »Sitzredakteuren«, die den Arbeitsalltag am Computer in engen und lauten Großraumbüros verbringen, und (Außen-)Reportern. Triebfeder für diese neue Organisationsform dürfte vor allem die Einsparung von Personalkosten sein. Dementsprechend bestehen Ängste vor einer Streichung von Redakteursstellen und der Zunahme von schlecht bezahlter Leiharbeit und prekärer Arbeit auch in Redaktionen und vor einem Vordringen »billiger Lohnschreiber« zu Lasten von Stammbelegschaften.

Viele Zeitungskonzerne geben in ihrem Verbreitungsgebiet nach wie vor mehrere parallel erscheinende Tageszeitungen mit separaten Titeln heraus, die jedoch neben dem gemeinsamen Anzeigenteil zunehmend auch identische redaktionelle Beiträge enthalten. Derlei »Synergien« könnten viele Redakteure und auch freie Journalisten und Fotografen zum Opfer fallen.

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