Der den Hai anschreit

Der Meeresforscher Hans Hass wurde dieses Jahr neunzig – und taucht immer noch. Jedoch nun mit anderem Blick auf die gefährdete Unterwasserwelt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 9 Min.

Vor einem dieser charakterlosen Fünfziger-Jahre-Häuser wie man sie gerade in Wien nicht vermutet, steht ein alter Mann auf seinen Stock gestützt und wartet. Wie er wartet, das erinnert immer noch an den Taucher, der mit seiner Harpune in der Hand Ausschau nach Beute hält. Aber nein, er habe nur vergessen, mir zu sagen, dass sein Name nicht auf dem Klingelschild steht. Oben ist sein Büro, auch das Archiv mit all seinen Filmen, die nun auf DVD zu haben sind, seinen Dutzenden Büchern und unzähligen Interviews, die er in den letzten siebzig Jahren gab.

Hans Hass trägt den Bart noch genauso wie damals, als er zum ersten Berichterstatter aus der Unterwasserwelt wurde. »Guten Tag, Herr Professor!« sagt eine Frau, die aus der Tür kommt, der Angesprochene grüßt mit gemessener Nachlässigkeit zurück. In Wien vergessen sie ihre Helden nicht.

Es gibt Dinge, die weiß man von Anfang an. Das ist dann der Bereich des mythischen Urwissens. Dazu gehört, dass man in eine Taucherbrille spuckt, bevor man sie aufsetzt. Angeblich soll das ihr Beschlagen verhindern. Oder dass man vor Haien niemals Angst zeigen darf, sondern ihnen mit einem lauten Unterwasserschrei energisch entgegen schwimmen muss. Klappt allerdings nicht bei zivilisationsgeschädigten Haien in der Nähe von Häfen und Dynamitfischern, bei manchen Haiarten ohnehin nicht. Überhaupt bezweifelt das, was man »die Forschung« nennt, ob Haie überhaupt hören können. Doch das ist ziemlich egal. Man schreit wohl nicht, um den Hai zu beeindrucken, sondern um sich selber stärker zu fühlen. Man schreit ohnehin aus Angst, und hinterher interpretiert man das dann um in einen Kampfschrei. Allerdings, wer unter Wasser zu viel schreit, schluckt leicht welches.

Der Schöpfer dieser Urweisheiten ist Hans Hass, Tauchpionier mit dem Instinkt eines investigativen Journalisten, nebenbei Erfinder vieler Unterwasserapparate, zum Fotografieren, zum Atmen – und selbst erster Filmstar unter Wasser. In diesem Herbst hat der Neunzigjährige in Kiel – zusammen mit Frank Schätzing – den Elisabeth-Mann-Borgese-Preis der Zeitschrift »mare« bekommen. Als 2005 der Tsunami die Malediven verwüstete, flog Hass sofort hin, um eine Unterwasserinventur der Schäden an den Korallenriffen vorzunehmen. In seinem Leben hat dieser Mann mehrfach das glückliche Talent bewiesen, knapp an allen möglichen Katastrophen vorbeizuschwimmen.

Wie wird ein gebürtiger Wiener zum Tauchpionier? Aus Liebeskummer, sagt Hass, damals mit achtzehn nach dem Abitur in Südfrankreich. Da gab es ein einsames Kap, da saß er und dachte über sein Leben nach und warum das Mädchen, das er liebte, ihn nicht zurücklieben wollte. Und da sah er einen Mann mit einem Speer in der Hand. Als der seine Taucherbrille mit fast majestätischer Würde hob und hineinspuckte, wusste er, dem würde es nie passieren, dass ihn die Frauen nicht liebten. Es war der amerikanische Schriftsteller Guy Gilpatric, Korrespondent der »Sunday Evening Post«. Bald darauf sah man den liebeskranken Abiturienten selbst beherzt in Taucherbrillen spucken.

Und bald schon wurde er zum Medienstar, der in überfüllten Vorträgen seine Unterwasserfilme zeigte – zum ersten Mal sahen ganz normale Überwasserschwimmer die Welt unter Wasser. Einen Meter unter der Oberfläche, und schon beginnt sich die Perspektive zu verschieben – es wird surreal. Korallen-Landschaften wie im Märchenwald und Fische so bunt und exaltiert wie Fabelwesen. Die Kameras hatte er selbst wasserdicht gemacht und immer weiterentwickelt. Einen Sinn für die Dramatik des Lebens unter Wasser besaß er von Anfang an. Auch einen Boulevard-Instinkt. Der Taucher sitzt auf einem Felsblock wie auf einem Thron und reflektiert die hinzugewonnene Perspektive: »Ich bin nicht zu Hause, bin in keiner Stadt und bei keinem Volke. Ich bin draußen im Ozean und sitze auf dem Meeresgrund.«

Naiv war der zwanzigjährige Hass wohl auch, als er 1940 nach Berlin kam, um hier Biologie zu studieren, aber hauptsächlich hielt er Vorträge über seine Abenteuer unter Wasser – jeden Tag einen, manchmal sogar zwei. Mehrmals füllte er sogar die Deutschlandhalle mit mehr als zehntausend Plätzen. Seine Fotos und Filme aus der Welt unter Wasser waren so sensationell wie die Berichte der Erstbesteigung des Mount Everest. Haie galten bis dahin als die Monster der Meere. Aber niemand hatte ihr Verhalten erforscht. Im Sommer 1939 tauchten sie vor Curaçao. Die Einheimischen hatten davor gewarnt – wegen der Haie. Da sich die Wiener Expedition nicht davon abhalten ließ, hier ins Wasser zu gehen, glaubte nicht nur die Fremdenpolizei, das Problem der feindlichen Ausländer werde sich schnell von selbst erledigen. Inzwischen hatte der Krieg begonnen – wer hatte da noch Tauchen im Kopf? Für Hass und seine Expedition schien der Krieg fern, doch wenn er zurück nach Deutschland käme, warteten auf ihn Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. Also beschloss er, lieber auf seinem Felsenthron unter Wasser sitzen zu bleiben. Er hatte Glück, statt auf Curaçao in ein Internierungslager zu kommen, gelangten seine Unterwasser-Farbfotos nach New York. Das Life-Magazin hatte sie gekauft. Davon würde er seine Rückreise nach Deutschland bezahlen können.

Aber vorher kam es bei einem Tauchgang noch zu jener berühmten Begegnung der besonderen Art. Rasend schnell näherte sich plötzlich ein riesiger Schatten. Als der Taucher den Hai ganz dicht vor sich sah, stieß er vor Angst einen gellenden Schreck aus – auch der Hai bekam einen Schreck und flüchtete. So ist das mit den Erkenntnissen, man weiß nie, ob man noch Gelegenheit haben wird, etwas mit ihnen anzufangen. Haie anschreien, das ist eine sehr bekannte Theorie, die allerdings bislang wenige in der Praxis erprobt haben. Aber wenn doch Haie höchstwahrscheinlich nicht hören können? Hass glaubt, dass die Haie auf die Druckwellen des Unterwasserschreis reagieren. Hat er denn oft aufdringliche Haie anschrein müssen? »Wissen Sie, es ist schwer überhaupt einen Hai zu Gesicht zu bekommen«, entgegnet Hass, »es sind sehr scheue Tiere«. Aber neugierig seien sie auch, sie kämen selten aus Fresslust, meist nur, um die Art des Eindringlings in ihr Revier zu prüfen. Heute ist ihr Bestand durch die Überfischung der Meere so dezimiert, dass man ersthaft beginnen muss, sie zu schützen – besonders so seltene Arten wie den Weißen Hai. Nur ein einziges Mal hat er einen in seinen vielen Tauchjahren von Weitem gesehen. Auf die meisten – und gefährlichsten Haie – stieß er ausgerechnet in der Ägäis. Dort hatte Dynamitfischen die Räuber angelockt.

Damals in Berlin war er so etwas wie ein Show-Star. Im Herbst 1940 brachte die »Berliner Illustrierte Zeitung« (Auflage zwei Millionen) Hass mit Hai auf der Titelseite. Das Foto ist zu einer modernen Ikone geworden. Der einundzwanzigjährige Wiener avancierte nicht nur zum Wunderkind der Meere, auch der Medien. Natürlich haben die Nazis versucht, ihn für ihre Propagandazwecke zu instrumentalisieren. Was dem entgegenstand? »Ich bin ein Selfmademan«, beschreibt sich Hass. Alle seine Reisen habe er allein finanziert und sich niemals irgendwo abhängig machen wollen. Eingeladen sei er allerdings oft gewesen bei reichsoffiziellen Anlässen. Einmal saß er neben einer anderen Österreicherin, sie unterhielten sich, er klagte, wie schwer er es neuerdings habe, sich seiner vielen Verehrerinnen zu erwehren, sie seufzte, ja, das gehe ihrem Bruder auch so. Ihrem Bruder? »Na, dem Führer!« In welch unsauberem Wasser tauchte er hier. – Als er dann 1945 seine Doktorarbeit beendet hatte, stand die Berliner Universität in Flammen. Nur durch einen Zufall verbrannte die gerade eingereichte Arbeit nicht. Mit Vorträgen und Filmen über seine Curaçao-Expedition hatte er bisher so viel Geld verdient, dass er endlich ein eigenes Forschungsschiff ausstatten konnte – aber kaum war es fertig, kam es nach Kriegsende als Reparationsleistung in die Sowjetunion.

Das Telefon klingelt. Jemand will ihn zum Thema Tauchsicherheit interviewen. Darüber habe ich viel geschrieben, gibt er dem Anrufer zur Antwort. Aber wenn er ihn besuchen wolle, solle er besser vorher noch mal anrufen. »Ich vergesse alles.« Was er nicht vergisst, ist die große Zeit seines Lebens, die Fahrten mit seinem Forschungsschiff »Xarifa« in den 50er Jahren, in Co-Produktion des deutschen Fernsehens mit der BBC. Haben Sie nicht irgend etwas Spektakuläres?, wurde er vorher gefragt. Hass überlegte, er hatte eine Sekretärin, die jung und hübsch war. Wenn er die nun zur Attraktion der Expedition machte? Aber eine Frau unter lauter Männern? »Bevor wir das erste Mal gemeinsam an Bord gingen, nahm ich sie zu Seite und sagte: Ab heute bist du ein Mann.« Ob er das eine Sekunde selbst geglaubt hat? Bald fand sich die Sekretärin Lotte Baierl auf allen Titelseiten der Illustrierten wieder – und Hans Hass ist inzwischen seit fast sechzig Jahren mit ihr verheiratet.

Es entstanden Kino-Filme in Farbe wie 1954 »Unternehmen Xarifa«. Das Meer kam nun auch bald ins heimische Wohnzimmer, denn die BBC gab bei Hass eine Reihe von Unterwassendokumentationen in Auftrag. Tauchen wurde zum Massensport, der Zauber des Einmaligen verschwand. Als Hass später an Stellen tauchte, die er seit Jahrzehnten kannte, war er entsetzt – wo früher ein schwimmender Zoo war, fand sich Jahrzehnte später nichts mehr, nur toter Meeresboden. Ist das die Schuld der vielen Taucher?, frage ich Hass. Nein, Taucher seien doch eher vorsichtige und umsichtige Menschen, die nichts zerstören wollten. Die blindwütige Industrialisierung des Fischfangs sei Schuld an der Verödung ganzer Meeresregionen. Am Anfang, sagt er, war Tauchen für ihn ein pures Abenteuer. Aber nun, nach Jahrzehnten der Zeugenschaft unter Wasser, weiß er, die letzten Paradiese sterben gerade.

Ein Thema gibt es, da reagiert er allergisch. Was ihn mit Jacques-Yves Cousteau, der in den 70er Jahren das Unterwasser-Fernsehen beherrschte, verbindet? »Ich mochte ihn nicht, er war mir zu arrogant.« Die meisten Taucher hätten einen einfachen Charakter, Cousteau nicht. Das war dann schon die Zeit, da Hass sein Forschungsschiff aufgegeben hatte und sich der »Energon«-Theorie zuwandte. Das ist eine Energieerhaltungstheorie des Lebens. In ihrer Konsequenz eine Mahnung an den Menschen, sich nicht länger als Beherrscher der Natur zu verstehen. Es hat ihn gekränkt, dass man diese Theorie, an der er Jahre gearbeitet hat, bis heute nicht recht ernst nimmt. Die überfischten Meere drohen zum Schrottplatz zu werden. Verschwindet damit der Zauber des Tauchens? »Wir müssen demütiger werden«, sagt Hass.

Heute würde er sich nicht mehr als Unterwasserjäger mit Harpune fotografieren lassen. Wenn er in den letzten Jahren tauchte, dann auch voller Wehmut darüber, wie viel dieser Entdecker-Sport von seiner Unschuld verloren hat. Trägt er selbst eine Mitschuld daran, schließlich verbindet sich gerade mit seinen Fotos und Filmen eine Art Eroberergeste des letzten verborgenen Kontinents? Nein, es ist wohl eine Umkehr aus Erfahrung, die man nicht vorwegnehmen kann. Und vielleicht sind es ja gerade die vielen tausend Taucher heute, die ein neues Bewusstsein für die Ökologie der Meere schaffen?

»Wollen Sie eigentlich kein Foto machen?«, fragt er plötzlich verwundert. Nein, das sei nicht mein Metier, antworte ich. Hass, der Selfmademan und Medienprofi unter und über der Meeresoberfläche, schüttelt ungläubig den Kopf. »Wenn ich je so gedacht hätte ...«

Hans Hass: Erinnerungen & Abenteuer. Verlag Styria in der Styria Pichler Verlag GmbH & Co KG Wien, geb., 384 S., 24,90 €.

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