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»Gestrandet« nach dem Krieg in Sri Lanka

Tausende Tamilen sehen sich neuen Risiken ausgesetzt

  • Lee Yu Kyung
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Mai 2009, nach einer mehrmonatigen Offensive der Regierungsarmee Sri Lankas, endete der 1983 ausgebrochene Konflikt zwischen tamilischer Minderheit und singhalesischer Mehrheit mit der Zerschlagung der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE), die für einen Separatstaat gekämpft hatten. Etwa 100 000 Menschen kamen durch den Krieg ums Leben. Für Zehntausende dauert das Leiden an.

Am Abend des 16. Mai 2009 war der 60-jährige Karan* als einer von 250 000 Tamilen auf die Seite der srilankischen Regierungsarmee geflohen, deren Artillerie sie unter Dauerbeschuss genommen hatte. »Es war gegen meine Überzeugung«, bekräftigt Karan und widerspricht einer Behauptung der Regierung: »Die LTTE (Befreiungstiger von Tamil Eelam) haben niemanden als Geisel genommen oder als menschlichen Schutzschild oder irgendwas missbraucht.« Die Tiger seien schließlich Kinder des tamilischen Volkes.

In den ersten Monaten des Jahres 2009 hatte Karan sein Moped bis zum äußersten strapaziert, um Ausmaß und Opfer des Krieges zu ermitteln. Er war einer der wenigen tamilischen Journalisten in der Kriegszone und schätzt die Zahl der Toten zwischen 14. Januar und 25. April auf mindestens 8000. Den Blutzoll der folgenden drei Wochen, den die UNO auf ungefähr 20 000 schätzt, will er nicht beziffern. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich persönlich gesehen habe. Was ich von anderen gehört habe, will ich nicht wiederholen.«

Nach dem offiziellen Kriegsende geriet Karan ins Internierungslager Manik Farm bei Vavunya, das von der Regierung zur Sperrzone erklärt wurde, für Hilfsorganisationen wie auch – und erst recht – für unabhängige Beobachter und Journalisten. Karan wurde am 20. Mai der »Zone 4« zugeteilt. Heute ist er jedoch weder im Lager noch überhaupt in Sri Lanka. Ihm ist die Flucht aus dem Land gelungen, das als eines der gefährlichsten für Journalisten gilt.

»Warum schläfst du hier in der heißen Sonne? Wenn du Geld hast, kannst du hier raus.« Es war Mitte Juni, als ein Fremder Karan dies zuflüsterte. Er lag außerhalb eines völlig überfüllten Zeltes, in dem nicht weniger als 14 Menschen untergebracht waren. Wer war der Fremde? Ein Armeespion? Sicherheitshalber sagte Karan, er finde das alles gar nicht so schlimm. Obwohl er wirklich nichts anderes im Sinn hatte, als einen Weg aus dem Lager zu finden, in dem es oft nur ungenießbares Essen gab.

»Etwas später kam wieder ein Mann auf mich zu und bot mir an, mich aus dem Lager zu bringen, wenn ich Geld hätte. Er gehörte zu den Gemüselieferanten der Zone.« Karan zahlte 200 000 Rupien (1200 Euro). Zu vereinbarter Zeit stieg er auf das Fahrzeug des »Gemüsemannes« und verbarg sich unter leeren Säcken. Sicherheitskräfte, wahrscheinlich bestochen, ließen das Auto mit dem Haufen leerer Gemüsesäcke passieren.

Der Wagen hielt an einem Wohnhaus nahe Vavunya, wo Karan weitere zehn Flüchtlinge traf. Zwei Tage später gab man ihm ein Ticket für den Zug nach Colombo. Ein Junge brachte ihn zum Bahnhof. Damit endete die Gegenleistung für 200 000 Rupien Fluchtgeld.

»In Colombo traf ich jemanden, der auch geflohen war. Er war auf ein Fahrzeug aufgesprungen, das die Toten aus dem Lager brachte, und hatte sich zwischen die toten Körper gelegt«, berichtet Karan, der einen weiteren großen Betrag an einen anderen Fluchthelfer zahlte und sich nun in einem Land Südostasiens aufhält.

Niemand weiß genau, wie viele Tamilen aus den Lagern und später aus Sri Lanka geflüchtet sind. Der interne Bericht einer Hilfsorganisation, der ND vorliegt, nennt 5186 Insassen, die die Lager »ohne Wissen der Behörden verlassen« haben. Ein Ausweis für die beschämenden Bedingungen in den stacheldrahtumzäunten »Zonen«, in denen Sicherheitskräfte wie auf einem möglichen Schlachtfeld patrouillieren.

Flüchtlinge bestätigen, was britische Medien berichteten. Am 10. Juli 2009 hatte die »Times« eine anerkannte internationale Hilfsorganisation mit den Worten zitiert, dass »jede Woche um die 1400 Menschen in dem riesigen Internierungslager Manik Farm sterben«. Es waren meist Ältere und Kinder, die an relativ einfachen Krankheiten wie Durchfall und hohem Fieber starben – aufgrund von Mangelernährung.

Der 23-jährige Jeyabalan*, der Anfang November aus »Zone 2« entkam, erzählt: »Ich ging Mitte Juni zum Hospital, vor dem wie immer eine lange Schlange stand. Gegen 13 Uhr fiel eine alte Frau um und starb innerhalb weniger Stunden. Niemand dachte daran, sich um sie zu kümmern, alle waren schon am frühen Morgen gekommen, nur um ein paar Tabletten zu ergattern.« Er weiß auch von Lautsprecherdurchsagen: »Hier ist ein toter Körper. Jeder, der einen Familienangehörigen vermisst, komme bitte her, um ihn zu identifizieren.«

Rajini*, die drei Monate in »Zone 4« interniert war, konnte wegen der langen Schlange 15 Tage lang keinen Arzt aufsuchen. Als sie endlich untersucht wurde, stellte der Mediziner eine Lungenentzündung fest. Aber sie erhielt nur ein paar Fiebertabletten. »Mehr als 20 Menschen starben in diesen drei Monaten in unserem Block D2. Und in Zone 4 gab es 54 Blöcke – von A1 bis F9. Ich hatte noch Glück, denn mein Block lag in der Nähe der höher gelegenen Hauptstraße, während die Blöcke D8 und D9, in denen Verwandte von mir untergebracht waren, oft von Regenfällen überflutet wurden«, erzählt Rajini.

Der Mangel an allen möglichen Versorgungseinrichtungen in den Lagern verschlimmerte die Katastrophe. Viele brachen schon in der Nacht oder am sehr frühen Morgen auf, um die langen Schlangen nach Lebensmitteln, Wasser, einer Toilette oder ärztlicher Hilfe zu umgehen. Einige verschwanden für immer. »Ich sah eine Mutter, die weinte, weil ihre Tochter auf der Suche nach Wasser am frühen Morgen aufgebrochen, bis zum späten Nachtmittag aber nicht zurückgekehrt war«, erzählt Karan. Die 30-jährige Chandra*, berichtet ähnliches: »Es war am 23. oder 24. Mai. Die Leute sprachen darüber, dass sechs Tote in der Nähe eines kleinen Flusses gefunden worden waren, der die Zonen 1 und 2 voneinander trennte. Ich ging zum Fluss und sah den leblosen Körper einer jungen Frau. Sie hatte im Nachbarzelt gelebt, war am frühen Morgen zur Toilette gegangen und nicht zurückgekehrt. Frauen hatten dort oft in der Dunkelheit ein Bad genommen.« Die gleiche Geschichte erzählt Siva* , die am anderen Ufer des Flusses interniert worden war.

»Sie waren betrunken!« Rajini erregt sich. »Die besoffenen Soldaten kamen zur Küche oder zum Wassertank, wenn die Leute dort spät nachts oder früh am Morgen in der Schlange standen. Sie schikanierten die Mädchen.« Vom ersten Tag an sei sie selbst im Lager gedemütigt worden. »Es gab keine einzige weibliche Verantwortliche, als wir dorthin gebracht wurden. Die Soldaten kontrollierten unsere Körper und unsere Habseligkeiten – 10 Minuten lang pro Person. Ich fühlte mich gedemütigt, konnte aber nichts dagegen tun. Keiner dort sprach Tamilisch.«

Während des Krieges hatten sich Regierungssender durchaus auf Tamilisch an die späteren Lagerinsassen gewandt: »Ihr habt keine andere Wahl als zur Regierungsseite überzuwechseln. Dort erhaltet ihr gutes Essen, Wasser, Unterkunft und alle Güter des täglichen Bedarfs.« Tatsächlich war nichts von alledem vorbereitet für jene, die drei oder vier Tage lang nichts gegessen hatten, als sie schließlich auf der Regierungsseite Zuflucht suchen mussten.

»Wir haben drei Tage unter freiem Himmel und ohne irgendetwas zugebracht. Die Armee war bei 22 000 angekommen, als sie aufhörte, die Flüchtlinge weiter zu zählen. Einige Soldaten waren menschlich, sie gaben uns von ihrem Essen«, berichtet Aravindan*, die am Morgen des 17. Mai aus der Kriegszone geflohen war.

Ab 20. Mai wurden die Tamilen in die Lager um Vavunya gebracht. »Wir versuchten, unsere Würde auch unter den harten Bedingungen des Krieges zu wahren. Aber sobald wir im Lager angekommen waren, warf die Armee ein paar Lebensmittelpakete einfach über die Köpfe der Menge. Woraufhin Tausende ums Essen kämpften.« Als sie die Geschichte von der Ankunft im Lager erzählt, bricht die stolze Chandra in Tränen aus.

Etwa acht Monate sind vergangen, seit der Krieg für beendet erklärt wurde. Sri Lankas Präsident Mahinda Rajapakse versicherte seinerzeit, dass die Flüchtlinge binnen 180 Tagen entlassen würden. Ende November war die Frist abgelaufen. Laut einem Bericht des UN-Büros für die Koordinierung Humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) wurden bis Jahresende 155 942 Flüchtlinge entlassen, 108 106 blieben interniert und in ihrer »Bewegungsfreiheit eingeschränkt«.

Und die Entlassenen? »Der Zugang zu den Rückkehrgebieten, vor allem zu den früher durch die LTTE kontrollierten, ist Hilfsorganisationen verboten. Daher ist es für die Betroffenen sehr schwierig, Hilfe dort zu erhalten, wo sie am notwendigsten wäre«, erklärte ein Menschenrechtsaktivist in Sri Lanka gegenüber ND. Er möchte seinen Namen nicht genannt wissen.

Chris Patten, Kovorsitzender der International Crisis Group (ICG) in Brüssel, schrieb in der »New York Times« am 12. Januar: »Ein großer Teil der mehr als 150 000 Menschen, die aus den Lagern entlassen wurden, sind weder in ihre Häuser zurückgekehrt noch wurden sie umgesiedelt. Sie wurden in ›Transitzentren‹ in ihren Heimatdistrikten gebracht, wo sie bis heute sind.«

Vor Karan, Chandra, Jeyabalan, Rajini und Tausenden anderen, die den Lagern entkamen und jetzt Asyl und Schutz suchen, liegen weitere Unwägbarkeiten. Nicht nur, dass ihre Zufluchtsländer die UN-Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben. Selbst Unterzeichnerstaaten wie Australien, ein bevorzugtes Ziel, sind nicht bereit, Asylsuchende aufzunehmen, wie der Fall jener 254 Tamilen zeigt, die mit einem Boot bei Merak in Indonesien strandeten. Die Propaganda der Regierung Sri Lankas und einiger Medien, die »Menschenschmuggler« für die Flüchtlingskrise verantwortlich machen, setzt die Asylsuchenden weiteren Risiken aus.

»Das ist kein Menschenschmuggel«, sagte Irene Khan, Generalsekretärin von Amnesty International, in einem Interview mit »Al Dschasira«. »Diese Menschen suchen Schutz, aber die internationale Gemeinschaft tut sehr wenig für sie. Es gibt keine Wiederansiedlung der Flüchtlinge. Ihr Schutz ist sehr gering und daher nehmen die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände und suchen verzweifelt nach einem Ort, wo sie in Sicherheit sind.« * Namen der Flüchtlinge

wurden geändert.

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