Hut ab, ein Genie!

Frédéric Chopin zum 200. – Schumanns »Kritische Umschau« von 1836

  • Robert Schumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Was ist ein ganzer Jahrgang einer musikalischen Zeitung gegen ein Konzert von Chopin? Was Magisterwahnsinn gegen dichterischen? Was zehn Redaktionskronen gegen ein Adagio im zweiten Konzert? Und wahrhaftig, Davidsbündler, keiner Anrede hielt' ich euch wert, getrautet ihr euch nicht, solche Werke selbst zu machen, als über die ihr schreibt, einige ausgenommen, wie eben dies zweite Konzert, an das wir sämtlich nicht hinankönnen, oder nur mit den Lippen, den Saum zu küssen. Fort mit den Musikzeitungen! Ja Triumph und letzter Endzweck einer guten müßte sein [...], wenn sie es so hoch brächte, daß sie niemand mehr läse aus Ennui, daß die Welt vor lauter Produktivität nichts mehr hören wollte vom Schreiben darüber; – aufrichtiger Kritiker höchstes Streben, sich [...] gänzlich überflüssig zu machen; – beste Art, über Musik zu reden, die, zu schweigen. [...] Fort mit den Zeitungen! Kömmt sie hoch, die Kritik, so ist sie immer erst ein leidlicher Dünger für die zukünftigen Werke; Gottes Sonne gebiert aber auch ohne dies genug. Noch einmal, warum über Chopin schreiben? Warum Leser zur Langweile zwingen? Warum nicht aus erster Hand schöpfen, sebst spielen, selbst schreiben, selbst komponieren? Zum letztenmal, fort mit den musikalischen Zeitungen, besonderen und sonstigen! Florestan

Ginge es dem Tollkopf, dem Florestan nach, so wäre er imstande, obiges eine Rezension zu nennen, ja mit selbiger die ganze Zeitung zu schließen. Bedenke er aber, daß wir noch eine Pflicht gegen Chopin zu erfüllen haben [...] Denn wenn eine Verherrlichung durch Worte [...] bis jetzt ausgeblieben, so suche ich den Grund einesteils in der Ängstlichkeit, die einen bei einem Gegenstande befällt, über dem man am öftesten und liebsten mit seinen Sinnen verweilt, daß man nämlich der Würde des Vorwurfs nicht angemessen genug sprechen, ihn in seiner Tiefe und Höhe nicht allseitig ergreifen könnte – andernteils in den innern Kunstbeziehungen, in denen wir zu diesem Komponisten zu stehen bekennen; endlich unterblieb sie auch, weil Chopin in seinen letzten Kompositionen nicht einen anderen, aber einen höheren Weg einzuschlagen scheint ...

[...] Chopin trat nicht mit einer Orchesterarmee auf, wie Großgenies tun; er besitzt nur eine kleine Kohorte, aber sie gehört ihm ganz eigen bis auf den letzten Helden.

Seinen Unterricht aber hatte er bei den Ersten erhalten, bei Beethoven, Schubert, Field. Wollen wir annehmen, der erste bildete seinen Geist in Kühnheit, der andere sein Herz in Zartheit, der dritte seine Hand in Fertigkeit.

[...] Dazu aber und zum günstigsten Aufeinandertreffen der Zeit und der Verhältnisse tat das Schicksal noch etwas, Chopin vor allen anderen kenntlich und interessant zu machen, eine starke originelle Nationalität, und zwar die polnische. Und wie diese jetzt in schwarzen Trauergewändern geht, so ergreift sie uns am sinnenden Künstler noch heftiger. Heil ihm, daß ihm das neutrale Deutschland nicht im ersten Augenblick zu beifällig zusprach und daß ihn sein Genius gleich nach einer der Welthauptstädte entführte, wo er frei dichten und zürnen konnte. Denn wüßte der gewaltige selbstherrschende Monarch im Norden, wie in Chopins Werken, in den einfachen Weisen seiner Mazurkas, ihm ein gefährlicher Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen.

[...] Solch Gepräge der schärfsten Nationalität tragen sämtliche frühere Dichtungen Chopins.

Aber die Kunst verlangte mehr. Das kleine Interesse der Scholle, auf der er geboren, mußte sich dem weltbürgerlichen zum Opfer bringen, und schon verliert sich in seinen neueren Werken die zu spezielle sarmatische Physiognomie, und ihr Ausdruck wird sich nach und nach zu jener allgemeinen idealen neigen, als deren Bildner uns seit lange die himmlischen Griechen gegolten, so daß wir auf einer andern Bahn am Ende uns wieder in Mozart begrüßen. [...]

Sollten wir uns über die Bedeutung, die er zum Teil schon gewonnen, in Worten in etwas erklären, so müßten wir sagen, daß er zur Erkenntnis beitrage, deren Begründung immer dringlicher scheint: ein Fortschritt unserer Kunst erfolge erst mit einem Fortschritt der Künstler zu einer geistigen Aristokratie, nach deren Statuten die Kenntnis des niederen Handwerks nicht bloß verlangt, sondern schon vorausgesetzt, und nach denen niemand zugelassen würde, der nicht so viel Talent mitbrächte, das selbst zu leisten, was er von anderen fordert, also Phantasie, Gemüt und Geist – und dies alles, um die höhere Epoche einer allgemeinen musikalischen Bildung herbeizuführen, wo über das Echte ebensowenig ein Zweifel herrsche wie über die mannigfaltigen Gestalten, in denen es erscheinen könnte, unter musikalisch aber jenes innere lebendige Mitsingen, jene tätigwerdende Mitleidenschaft, jene Fähigkeit des schnellen Aufnehmens und Wiedergebens zu verstehen sei, damit in der Vermählung von Produktivität und Reproduktivität zur Künstlerschaft den höheren Zielen der Kunst immer näher gekommen werde. Eusebius

Der Autor – Musikschriftsteller und Komponist – wurde im selben Jahr geboren wie Chopin. Die Kunstfiguren Florestan und Eusebius gehören den fiktiven Davidsbündlern an, denen Schumann in seinem Werk Stimme und Leben verlieh. Über Chopin ließ er seinen Eusebius bereits 1831 ausrufen: »Hut ab, ihr Herrn, ein Genie«.

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