Streitfrage: Sollte die Bundesrepublik ehemalige Häftlinge aus Guantanamo aufnehmen?

  • Lesedauer: 9 Min.

Obama helfen, ein Versprechen einzulösen

Monika Lüke
Monika Lüke

Von Monika Lüke

Endlich. Die Bundesregierung scheint sich zu bewegen. Wenn Medienberichte stimmen, haben Vertreter der deutschen Regierung im US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba mit Insassen über ihre mögliche Aufnahme in Deutschland gesprochen. Der US-Sondergesandte Fried hatte Ende 2009 eine Liste mit dafür in Frage kommenden Guantanamo-Häftlingen übergeben.

Nun also scheint sich auch in der Bundesregierung die Einsicht Raum in den Köpfen verschafft zu haben, dass Deutschland nicht nur eine moralische Verpflichtung hat, Häftlinge aus Guantanamo aufzunehmen, sondern dass sie damit einen substanziellen Beitrag leisten kann, die Sicherheit des Westens zu erhöhen.

Vielleicht verstummt nun jene litaneihaft vorgetragene Behauptung, wir würden uns damit freiwillig eine Gefahr, ja den Terrorismus nach Deutschland holen. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Bei der Gruppe von noch etwa 40 Gefangenen, die in europäischen Staaten Aufnahme finden sollen, handelt es sich um Männer, die von den US-Behörden selbst als mutmaßlich unschuldig eingestuft werden. Männer, die bis zu acht Jahre lang mit allen legalen und einigen illegalen Methoden wieder und wieder verhört worden sind. Männer, die freigelassen werden sollen, aber nicht nach Hause können, weil ihnen dort aus politischen Gründen Verfolgung, wahrscheinlich Gefängnis und Misshandlung, vielleicht sogar die Todesstrafe droht. Männer, die nach vielen Jahren Haft unter nahezu härtesten Bedingungen in Guantanamo vermutlich schwer traumatisiert sind und Hilfe benötigen. Männer, die einen Anspruch darauf haben, dass man alles Mögliche tut, um diese menschenrechtswidrige Haft endlich zu beenden.

US-amerikanische Regierungsstellen haben in letzter Zeit wiederholt Zahlen verbreitet, denen zufolge etwa jeder fünfte entlassene Guantanamo-Häftling wieder unter Terrorverdacht stehe oder »rückfällig« geworden sei. Deutsche Medien berichten darüber, doch die Debatte ist polemisch. Denn wer als mutmaßlich unschuldig entlassen ist, kann nicht »rückfällig« sein. Zudem haben die US-Behörden bisher keine belastbaren Beweise für die Anschuldigungen vorgelegt. Namen hat das Pentagon nur teilweise genannt. Einige Ex-Häftlinge wurden allein deshalb als »rückfällig« eingestuft, weil sie sich US-kritisch geäußert oder die USA auf Entschädigung verklagt hatten. Einige der angeblich Rückfälligen waren nie in Guantanamo, oder bereits tot, oder saßen aus anderen Gründen schon wieder in Haft.

Natürlich können tatsächliche Straftäter auch rückfällig werden – in den USA liegt die Quote der BBC zufolge übrigens bei 60 Prozent. Doch solche »Berichte« haben nicht den Zweck zu informieren, sondern Stimmung zu machen – dafür, dass ein Lager wie Guantanamo und die dort angewandten Methoden letztlich doch zu rechtfertigen, weil zur Terrorabwehr unabdingbar seien. Und damit eine Politik, die Obama bei seinem Amtsantritt am 22. Januar 2009 endlich und zu Recht als illegal gekennzeichnet hatte. Hier schreiben und reden Leute, die nichts begriffen haben oder begreifen wollen.

Im politischen System wie in der Gesellschaft der USA findet eine harte Auseinandersetzung statt: Erfordert es die Sicherheit der USA, Menschen willkürlich und ohne Anklage über Jahre wegzusperren, sie zu foltern? Oder ist dies mit der Identität der USA als Rechtsstaat unvereinbar – und birgt eine Gefahr für die Sicherheit nicht nur der USA, sondern des gesamten Westens? Letzteres ist der Fall. Guantanamo ist zum Symbol einer Form von Terrorbekämpfung geworden, die Menschenrechte systematisch verletzt. Die EU-Staaten, Deutschland voran, können derzeit kaum einen besseren Beitrag zur Sicherheit der restlichen Welt leisten, als dass sie Obama helfen, Guantanamo endlich zu schließen und damit ein Versprechen einzulösen, das der amerikanische Präsident zu seinem Amtsantritt gegeben hatte.

Es stimmt: Die USA müssten diese Gefangenen eigentlich auf ihrem Territorium aufnehmen. Und die Obama-Regierung wäre dazu auch bereit. Aber es ist innenpolitisch einfach nicht durchsetzbar. Der US-Kongress verabschiedete am 23. Oktober 2009 eine Resolution, die jeglichen Transfer von Gefangenen in die USA untersagt.

Nein, die Debatte über die »Rückfälligkeit« und die »Gefährdung« durch die Aufnahme dieser Gefangenen geht nicht nur von falschen Prämissen aus, sie ist auch gefährlich. Denn zur menschenrechtsverachtenden Politik der Ära Bush kann und sollte der Rechtsstaat USA nicht ernsthaft zurückwollen.

Für die einzelnen EU-Länder geht es jeweils nur um eine Handvoll Gefangene. Sie können, unter Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte, überwacht werden. Und man wird feststellen, sie werden vollauf damit beschäftigt sein, in ein normales Leben zurückzufinden und mit ihrem Trauma zurechtzukommen. Deutschland und die anderen EU-Mitgliedstaaten nehmen regelmäßig Asylsuchende auf, die aus Folterstaaten kommen und teilweise über Jahre zu Unrecht inhaftiert und gefoltert wurden. Amnesty International sind kaum Fälle bekannt, in denen sich Menschen, die unrechtmäßige Haft und Folter erlitten haben, dann im Aufnahmeland radikalisiert hätten. Die Folteropfer brauchen therapeutische Behandlung, und Deutschland hat eine Reihe renommierter Spezialeinrichtungen dafür.

Und übrigens haben sich viele europäische Staaten diesen Einsichten längst geöffnet. Zehn europäische Staaten haben aus humanitären Gründen Gefangene aufgenommen oder angekündigt, dass sie das tun werden. 58 Gefangene sind seit dem Amtsantritt Obamas entlassen worden. 31 davon kehrten nicht in ihre Heimatländer zurück, sondern erhielten internationalen Schutz. Keinem der 58, die nach einem neuen Haftprüfungsverfahren entlassen wurden, ist bisher Kontakt zu Terroristen vorgeworfen worden.

Wenn Deutschland, das größte und mächtigste Land der EU, seinen Widerstand aufgibt, könnte dies dazu beitragen, dem Skandal und dem Gefahrenherd Guantanamo endlich ein Ende zu machen.

Monika Lüke, 1969 in Bochum geboren, ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International (AI). Die promovierte Völkerrechtlerin war bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) als Projektkoordinatorin in Ostafrika tätig und arbeitete bei der Evangelischen Kirche im Bereich Migranten- und Flüchtlingsrechte.


Ein deutsches Ausweichmanöver

Von Holger Hövelmann

Neben dem Abu-Ghoreib-Gefängnis in Bagdad ist das Gefangenenlager im amerikanischen Militärstützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba das eindringlichste Symbol dafür, wie die USA unter der Regierung Bush den Kampf gegen den Terrorismus geführt haben und wie ihn demokratische Staaten eben nicht führen dürfen. Schon der Ansatz war perfide: einen Raum zu suchen, an dem man zwar die faktische Macht ausübt, sich aber an die eigenen Gesetze nicht halten zu müssen glaubt. Dass schon die amerikanische Justiz diesen Plänen Grenzen setzte und das amerikanische Volk diesem Kurs schließlich eine klare Absage erteilte, trug zur Wiederherstellung des amerikanischen Ansehens in der Welt bei.

Die Auflösung des Lagers Guantanamo wird deshalb zurecht als Glaubwürdigkeitstest für die Regierung von Barack Obama angesehen. Um diesen Test zu bestehen, brauchen die USA keine Hilfe von Staaten, die für die Inhaftierung von Menschen in diesem Lager keinerlei Verantwortung tragen. Denjenigen unter den Insassen, die mangels Beweisen nicht vor Gericht gestellt werden können, also zu Unrecht inhaftiert waren, die aber nicht in ihre Heimat zurückkehren können – denen sollte die amerikanische Gesellschaft eine Perspektive bieten können.

Davon abgesehen halte ich die Debatte in Deutschland um die mögliche Aufnahme von Inhaftierten aus Guantanamo für einen Nebenkriegsschauplatz. Solche und ähnliche medial inszenierte Diskussionen – wie der Begriffsstreit um »Krieg« und »nichtinternationalen bewaffneten Konflikt« in Afghanistan – halte ich für ein Ausweichen vor den tatsächlich relevanten Fragen, die in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine viel zu geringe Rolle spielen.

Eine der wichtigsten verdrängten Fragen ist: Was hat der »Krieg gegen den Terror« bislang gebracht, und wie kann die Aus-einandersetzung mit islamistischen Terroristen erfolgreich geführt werden?

Islamistischer Terrorismus ist eine tatsächliche Gefahr – in Deutschland hat es der Prozess gegen die »Sauerland-Gruppe« jüngst gezeigt. Im »Krieg gegen den Terror« wurde jenseits und diesseits des Atlantiks ein beeindruckendes Arsenal an freiheitseinschränkenden Gesetzen bereitgestellt. Unsere Sicherheit hat das jedoch nur scheinbar erhöht: Trotz Visumpflicht, Datenübermittlung und »Heimatschutz«-Gesetzen konnte ein nigerianischer »Gefährder« ungehindert in die USA einreisen, vor dem sogar sein eigener Vater die US-Behörden gewarnt hatte. Was dem Westen fehlt, ist nicht die nächste Generation von Nacktscannern, sondern eine globale Strategie für einen gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd, für den Aufbau einer echten internationalen Gemeinschaft, in der auch die islamischen und arabischen Gesellschaften gleichberechtigt Platz finden. Nur so kann Al Qaida und ihren Geistesverwandten das Wasser abgegraben werden. Ohne eine friedliche Lösung für Israel und Palästina wird das allerdings nicht gehen.

Noch eine Frage, vor der Deutschland sich drückt: Was ist das Ziel des Militäreinsatzes in Afghanistan?

Die seinerzeit aus Afghanistan nach Guantanamo verfrachteten Kämpfer gehören heute gewissermaßen schon zu den Urahnen der radikalislamistischen Guerilla, mit denen sich die Bundeswehr und ihre Verbündeten in Afghanistan heute auseinandersetzen. In diesem Kampf riskieren und verlieren immer mehr deutsche Soldaten ihr Leben, vielleicht bald auch deutsche Polizisten. Ob die Gesellschaft diesen Preis weiterhin zu zahlen bereit ist, wird nicht von definitorischen Verrenkungen der Bundesregierung abhängen, sondern davon, ob es ein politisch definiertes, nachvollziehbares und realistisches Ziel dieses Einsatzes gibt.

Die Liste von US-Interventionen, die nach einem machtvollen Aufschlag im wahrsten Sinne des Wortes im Unterholz stecken blieben, ist lang. Die Listen der Todesopfer sind noch viel länger. Wenn auf diesen Listen auch immer mehr deutsche Soldaten stehen, wird das für unsere Gesellschaft nur zu ertragen sein, wenn wenigstens ihr Einsatz ein sinnvoller Beitrag zum Aufbau eines demokratischen Afghanistan und zum Schutz seiner Institutionen war. Das aber ist fragwürdig geworden. Gebraucht werden jetzt keine isoliert militärischen, sondern politische Antworten.

Schließlich verdrängt die Guantanamo-Debatte in Deutschland noch eine andere notwendige Diskussion: Welche Flüchtlingspolitik braucht eine Gesellschaft, die im Innern stolz auf Weltoffenheit und den Schutz der Menschenwürde ist?

Vielleicht nicht im »Neuen Deutschland«, aber doch in den meisten Medien findet der zukünftige Aufenthalt von Guantanamo-Insassen (die in der Berichterstattung oftmals zu »Flüchtlingen« mutieren) im Vergleich zu den tatsächlichen Fluchtbewegungen in der Welt ungebührlich große Aufmerksamkeit. Ob die nach Europa drängenden boat people, die in Scharen im Mittelmeer ertrinken, oder die Roma, die vor wachsendem Rassismus in Südosteuropa fliehen – sie alle finden mit ihrem Schicksal deutlich weniger Interesse. Deutschland und Europa brauchen endlich eine Politik, die geregelte Zuwanderung und Integration ermöglicht und damit Perspektiven auch für Menschen bietet, die heute ihre letzte Hoffnung auf eine seeuntüchtige Nussschale setzen.

Ich habe Sorge, dass die Aufnahme einiger weniger Guantanamo-Insassen mit einem wie auch immer gearteten islamistischen Hintergrund neue Ressentiments auslöst, die letztlich gegen eine liberalere Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik zurückschlagen. Wenn sich gar herausstellt, dass von einzelnen dieser Personen tatsächliche Gefahren für die innere Sicherheit ausgehen, wäre ein nicht wieder gutzumachender Schaden angerichtet. Das ist ein zu hoher Preis für eine scheinbare Geste der Liberalität und für einen Freundschaftsdienst an den amerikanischen Präsidenten.

Holger Hövelmann, Jahrgang 1967, ist Innenminister von Sachsen-Anhalt und stellvertretender Vorsitzender des SPD-Landesverbandes. Seit 1993 ist Holger Hövelmann Mitglied der SPD. Von 2004 bis 2009 war er Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt.

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