Solidarisch in die Offensive

Auf der Suche nach linker Hegemonie

  • Lesedauer: 10 Min.
Die Partei DIE LINKE hat mit der Debatte um ihr Grundsatzprogramm begonnen, das sie im Herbst 2011 beschließen will. ND begleitet die Debatte mit einer Artikelserie. In der vorliegenden Ausgabe publizieren wir Beiträge von Birgit Mahnkopf, Hermann Scheer und Werner Dreibus. Dabei handelt es sich um gekürzte Zusammenfassungen einer Diskussion über linke Hegemonie, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung auf dem diesjährigen »Fest der Linken« veranstaltete.

Hermann Scheer, ehrenamtlicher Präsident der
gemeinnützigen Vereinigung für erneuerbare
Energien EUROSOLAR, Kurator des Instituts Solidarische
Moderne, SPD-Bundestagsabgeordneter

Birgit Mahnkopf, Professorin für Europäische
Gesellschaftspolitik, Mitglied im Wissenschaftlichen
Beirat von Attac, Kuratoriumssprecherin
des Instituts Solidarische Moderne.

Werner Dreibus, ehemaliger Bevollmächtigter
der IG Metall in Offenbach, Bundesgeschäftsführer
der Partei DIE LINKE und Vizevorsitzender
der Linksfraktion im Bundestag


Hermann Scheer

Nach meinem Staatsverständnis muss der Staat die Agentur für die Allgemeininteressen sein, nicht eine Agentur für die Interessen einer mächtigen Elite. Er muss dafür sorgen, dass nicht immer mehr Menschen ins Uferlose fallen und für sich keine Perspektive mehr sehen. In den Zeiten hohen wirtschaftlichen Wachstums war das weniger ein Problem. Es herrschte die Ideologie, die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze und die Steuermittel von morgen. Das wurde zwar nicht generell so gehandhabt, aber die weniger Begüterten bekamen ihre kleinen Brocken ab. Diese Phase ist ökonomisch zuende. Jetzt müsste der Staat etwas tun, was er nie geschafft hat: Er müsste eine andere Steuer- und Umverteilungspolitik angehen, um auch bei geringerem Wachstum soziale Ausgaben finanzieren zu können. Da er das nicht tut, entzündet sich Protest.

Auch die Linken haben sich in wirtschaftlichen Wachstumszeiten daran gewöhnt, dass der Staat sich um das kümmert, was ihre Anliegen sind. Zur Familie der linken Parteien gehörten früher viele Formen der Selbstorganisation. Das waren Konsumvereine, die Arbeiterwohlfahrt und ein ziemlich weit verbreitetes Genossenschaftswesen bis hin zu Kreditgenossenschaften. Sie hielten die irgendwann nicht mehr für nötig, ließen sie einschlafen. Die Deaktivierung solcher Organisationsformen und Kontakte hat mit zu dem Entfremdungsprozess beigetragen, den wir heute z. B. in Gestalt einer Nichtteilnahme bei Wahlen erleben: Die Linke hat sich so selbst geschwächt. Einen Ausweg sehe ich nur darin, in der Breite der Gesellschaft, in den Stadtgebieten und ländlichen Räumen sich wieder mehr um die Alltagsprobleme zu kümmern und Selbstorganisationsformen zu fördern, in enger Verbindung mit den linken Parteien. Es ist kein Ersatz für Forderungen, die an den Staat zu richten sind, sondern der Boden, auf dem sie erfolgreicher wachsen können.

Die Linken müssen darauf drängen, den Sozialstaat gerechter zu machen. Er muss nicht mehr kosten, aber gerechter sein. Wir brauchen einen Schritt weg von der individuellen Monetarisierung von Sozialleistungen, hin zu wirklichen Kollektivfinanzierungen. Es wäre z. B. besser, Kinderkrippen, Kindergärten und Vorschulen direkt zu finanzieren und ausreichend auszustatten, statt individuell das Kindergeld zu erhöhen. Wir müssen Modelle, die über Jahrzehnte praktiziert wurden, von Grund auf überprüfen. Die neoliberalen Attacken bestanden darin, zu verschlanken, Leistungen zu kürzen und obendrein noch Beiträge zu erhöhen. Das hat den Groll auf die gesamte Politik erhöht: Zu recht fragen sich die Leute, warum sie eigentlich immer mehr zahlen sollen, wenn sie immer weniger erhalten. Hier muss die Linke mit kreativen neuen Konzepten eingreifen.

Dabei kommt es auch darauf an, die Grenzen der eigenen Partei zu überschreiten, vor allem das Schweigen untereinander zu durchbrechen. Egon Bahr hat vor über 30 Jahren mal gesagt: Wer alles für richtig erklärt, was die eigene Partei macht, der ist entweder strohdumm oder total verlogen. Wir brauchen keine Kadaverloyalität, sondern eine Diskussion, die Trennungen aufheben kann.

Das Gift jeder Diskssion ist, unkritisch gegenüber dem Eigenen und überkritisch gegenüber dem Anderen zu sein. Wenn man Querschnittswähler der SPD, der Grünen oder der Linkspartei nach ihren politischen Vorstellungen befragen würde, wären sie sich vermutlich sehr schnell über die Notwendigkeit von Rot-Grün-Rot einig. Aber die Repräsentanten der Parteien gefallen sich mehr in Funkstille untereinander oder gar Abgrenzung voneinander. Das haben wir wieder bei den Spiegelfechtereien in Nordrhein-Westfalen gesehen, die Koalitionsverhandlungen gar nicht erst möglich machten, weil der Linkspartei abverlangt wurde, erst mal die für NRW so wichtige Frage ihres Verhältnisses zur verblichenen DDR zu klären. Das sehen wir bei der Linkspartei, die seit 2005 sehr viel Selbstverständnis und Mobilisierungsabsicht damit verknüpft hat, sich besonders hart von der SPD abzugrenzen. Das sehen wir auch bei den Grünen, die manchmal wie ein Huhn auf ihrem Öko-Ei sitzen, an das niemand ran darf, damit es ihres bleibt.

Was also not tut: Die Linken müssen sich wieder eine gemeinsame Kommunikationsbasis schaffen.

Birgit Mahnkopf

Wir haben einiges zu tun, um die Köpfe wiederzugewinnen, in die der Neoliberalismus sehr erfolgreich eindringen konnte. Seine Botschaft war, dass Märkte darüber zu entscheiden haben, was gut ist für eine Gesellschaft. Und die Märkte kennen nur ein Prinzip: das Prinzip des Preises bzw. das Prinzip der Bestenauslese. So aber können Gesellschaften nicht funktionieren. Gesellschaften brauchen Zusammenhalt, sie brauchen Solidarität, sie brauchen Gerechtigkeit. All das können Märkte nicht leisten. Es gibt für uns – für linke Parteien, soziale Bewegungen, für Künstler, Kirchen und viele andere – eine Menge Herausforderungen. Die wichtigste ist, deutlich zu machen, dass uns nicht Wettbewerb, sondern Kooperation voranbringt.

Solidarität bedeutet: Diejenigen, die stark sind, müssen nach ihrer Leistungsfähigkeit geben und bekommen nur das heraus, was ihr tatsächlicher Bedarf ist. Keine Gesellschaft kann sich allein auf eine Ökonomie gründen, die nur für die Leistungsfähigen etwas abwirft. Das aber heißt: Wir müssen uns von dem heute dominanten Gedanken der globalen Märkte abwenden. Wir müssen uns auf das besinnen, wovon die meisten Menschen abhängig sind, nämlich auf die Ökonomie dort, wo sie leben. Es muss überall ein würdiges Leben möglich sein.

Die Krise, in der wir uns befinden, ist nicht nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ist vielfach längst eine Krise von Staatshaushalten und wird zu einer Krise unserer gesamten gesellschaftlichen Entwicklung. Nicht Wachstum, wie wir es in der Vergangenheit hatten, sondern Umverteilung muss zum Motor der weiteren Entwicklung werden. Das betrifft insbesondere unseren Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Es geht nicht allein darum, die CO2-Emissionen auf ein Zehntel dessen zu reduzieren, was wir in Deutschland jährlich pro Kopf verbrauchen. Wir benötigen fast ebenso weitgehende Reduktionen bei den Stoffströmen und diese lassen sich nicht allein durch eine effizientere Verwendung von Ressourcen erreichen, wir müssen unseren Verbrauch einschränken. Hinzu kommt eine in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre sich zuspitzende Ernährungskrise, für deren Entstehung wir direkt und indirekt verantwortlich sind. Mit diesen vielfältigen Krisen zu Rande zu kommen, wird nur gelingen, wenn wir einen anderen gesellschaftlichen Entwicklungspfad beschreiten, – einen, der auf Kooperation und Solidarität und nicht auf Konkurrenz als dem wesentlichem Prinzip gründet.

Aber was macht es den Kräften, die das wissen oder zumindest ahnen, so schwer, gemeinsam etwas zu tun? Schauen wir auf das politische Feld in der Bundesrepublik. Wir haben eine SPD in einer tiefen Identitätskrise, weil sie sich der sozialen Frage auf eine sehr brutale Art und Weise entledigt hat. Wir haben eine grüne Partei, die eine Art FDP der aufgeklärten bürgerlichen Schichten sein möchte, wenngleich auch viele ihrer Mitglieder von einer Vergrünung des Kapitalismus träumen und sich vom neoliberalen Strom abgrenzen. Wir haben eine LINKE, die sich arg mit sich selbst beschäftigt und sehr wenig in die Gesellschaft hineinwirkt. Die Gewerkschaften versuchen vor allem, in der Krise den Korporatismus irgendwie zu retten. Sie gehen dabei in eine Duckhaltung und hoffen, mit dem alten Modell – Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnverzicht – über die Krise und den damit verbundenen Abbau von Arbeitsplätzen hinwegzukommen. Schließlich die sozialen Bewegungen: Ihnen fehlt im Augenblick der entscheidende Drive. Für ihre Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer gibt es derzeit keine parlamentarischen Mehrheiten, die diese – auch auf europäischer Ebene – in Gesetze umsetzt. In der Folge verbreitet sich auch bei sozialen Bewegungen Ratlosigkeit. Sie können zwar in einigen Bereichen gut mobilisieren, benötigen aber für die Umsetzung ihrer Forderungen einen Adressaten im parlamentarischen Raum, dem sie Druck machen können und der auf diesen Druck auch reagiert.

Niemand ist momentan also gut darauf vorbereitet, den zunehmend für Veränderungen empfänglichen Menschen eine Perspektive zu weisen, für die diese sich hoffnungsvoll mit engagieren würden. Das ist es, was wir alle überwinden müssen, und was wir nur gemeinsam überwinden können. Eine Voraussetzung dafür ist: Wir müssen uns zuhören und respektieren lernen, statt den Weg ständiger Abgrenzung zu gehen. Das ist für mich die Idee und das Projekt der Solidarischen Moderne.

Werner Dreibus

Wir erleben derzeit einen vielleicht in diesem Ausmaß noch nie gespürten Gegensatz. Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem steht vor drei zentralen Fragen – der sozialen Frage, der ökologischen Frage und der Friedensfrage. Aber der real existierende Kapitalismus hat offensichtlich keine Antworten dafür. Sehr viele Menschen erleben dies täglich bitter, insbesondere in sozialer Hinsicht. Dennoch ist die Menschheit derzeit nicht in einer Verfassung, diesen Widerspruch organisiert, gemeinsam aufzulösen.

In Deutschland hatten wir zumindest in den letzten hundert Jahren kaum eine vergleichbare Situation der Entwicklung von Armut auf der einen Seite und der massenhaften Zunahme des Reichtums bei einer relativ kleinen Schicht der Bevölkerung auf der anderen Seite. Dies hat sich in den letzten zehn Jahren beschleunigt. Der Lohndruck auf die noch Beschäftigten nimmt stetig zu. In hohem Maße erodiert die so genannte Mittelschicht und die sozialen Abstiegsängste machen sie hochanfällig für politische Lösungen, die einem gesellschaftlichen Aufbruch entgegenstehen. Es gibt wenig gesellschaftlichen Konsens darüber, welche grundsätzlichen Veränderungen nötig sind, wie und in welchen Schritten sie bewerkstelligt werden könnten.

Die politischen Formationen im rot-rot-grünen Spektrum wie auch die Gewerkschaften haben für Teile der genannten zentralen Fragen durchaus vernünftige und an vielen Stellen auch zueinander passende Antworten gefunden – die Gewerkschaften in den sozialen Fragen, die Friedensbewegung in der Friedensfrage, die ökologische Bewegung, die Anti-Globalisierungsbewegung und die Frauenbewegung in einer Reihe weiterer Fragen. Aber es gelingt noch nicht, aus diesen Bewegungen heraus einen gesellschaftlichen Impuls für reale Veränderungen zu setzen.

Das spüren natürlich auch die Parteien, die die Adressaten für ein gesellschaftsveränderndes Projekt sein könnten: DIE LINKE, die Grünen und die SPD. Wir schaffen es derzeit nicht, ein Cross-Over-Projekt zwischen diesen Parteien zu entwickeln, erleben hier und da sogar Rückschläge – siehe Nordrhein-Westfalen, siehe die Wahl eines neuen Bundespräsidenten. Das rot-rot-grüne Spektrum agiert nicht gemeinsam.

Allerdings werden die Parteien allein ein solches Cross-Over-Projekt auch nicht voranbringen können. Es bedarf dafür eines sehr viel stärkeren gesellschaftlichen Fundaments, einer gesellschaftlichen Grundstimmung, die sich gegen den Mainstream des neoliberalen Denkens artikuliert und auf gesellschaftliche Veränderungen drängt. Ein solches Projekt muss eine kulturelle und eine wissenschaftliche Dimension haben, und es braucht eben auch eine sehr breite Bündnisdimension. Wir müssen uns alle bemühen, Schritte und Ideen zu entwickeln, wie wir diese Situation in den nächsten Jahren auflösen können.

Aktuell müssten sich die Akteure eines Cross-Over-Projekts in den nächsten Wochen darauf verständigen, der schwarz-gelben Haushaltssanierung auf Kosten der ganz Schwachen und Armen in unserer Gesellschaft massenhaften Widerstand entgegenzusetzen. Die so genannten Sparbeschlüsse werden mit der Beratung des Bundeshaushalts 2011 im September bis November real. Wir brauchen deswegen sehr schnell einen Verständigungsprozess zwischen Gewerkschaften, Attac, sozialen Bewegungen, SPD, Grünen und der LINKEN, wer welchen Beitrag zur Information, Aufklärung und Mobilisierung in unserem Land leisten kann.

Und dies dürfen wir nicht in Konkurrenz zueinander tun, auch nicht, indem wir in denselben Zielgruppen mehr oder weniger fischen. Wir müssen gemeinsam überlegen, welche der Organisationen und Parteien wen am erfolgreichsten ansprechen und mitziehen kann. Allen muss bewusst sein, dass wir im Herbst massenhafte Aktivitäten und Aktionen brauchen, wenn wir den Widerstand gegen die schwarz-gelben Attacken organisieren wollen. Wir müssen uns dabei so begreifen, wie Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, es genannt hat: als Mosaik-Linke. Da hat jedes Teil des Mosaiks seine eigene Farbe und seine Souveränität, aber erst zusammen ergibt es ein Bild mit einer Ausstrahlungskraft.


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