Wollte nach Osten, geriet in den Westen

Erfurter Anger-Museum zeigt die Avantgardistin Natalja Gontscharowa

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 5 Min.
Das »Wäldchen«, um 1920 entstanden, eins der Werke in der Ausstellung »Natalja Gontscharowa – zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne«, die bis zum 3. Oktober im Anger-Museum in Erfurt zu sehen ist.
Das »Wäldchen«, um 1920 entstanden, eins der Werke in der Ausstellung »Natalja Gontscharowa – zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne«, die bis zum 3. Oktober im Anger-Museum in Erfurt zu sehen ist.

Mit einem Paukenschlag wird Natalja Gontscharowa (1881-1962) im vorrevolutionären Russland als avantgardistische Künstlerin bekannt, als 1910 aus einer Moskauer Ausstellung einige ihrer Aktbilder beschlagnahmt werden. Die Malerin wird vor Gericht gestellt. Ihre monumentalen Akte sprechen die Sprache des Kubismus, wiewohl sie stark farbig angelegt sind. Sie räkeln sich nicht lasziv auf der Chaiselongue, stehen vielmehr selbstbewusst aufrecht, voluminös und muskulös.

Als Quelle ihrer Inspiration benennt Gontscharowa skythische Steinstatuen und russische Volkskunst. Insbesondere die eigentümliche Durchdringung der Letzteren mit einer beharrlichen Auseinandersetzung mit der Moderne kennzeichnet das Oeuvre der Künstlerin, welches das im Juni nach fünfjähriger Sanierung und Umbaumaßnahmen wiedereröffnete Anger-Museum in Erfurt als Debütausstellung zeigt.

Ihr Nachlass gelangte auf Wunsch ihres Mannes und Künstlerkollegen Michael Larionow nach dessen Tod 1964 in die Moskauer Tretjakow-Galerie. Erstmals stellt die Schau nun das Ergebnis der wissenschaftlichen und restauratorischen Aufarbeitung des Legats öffentlich vor. Ergänzt werden die 50 Gemälde Gontscharowas durch zahlreiche Fotografien und Dokumente, die ein bewegtes Künstlerdasein zwischen Ost- und Westeuropa lebendig werden lassen. Beeindruckend, wie die in der Provinz Tula südlich von Moskau geborene Künstlerin in all dem Feuerwerk neuer Stile von der Jahrhundertwende bis in die 1910er Jahre ihre Wurzeln geltend macht – und gleichwohl um 1913 zur führenden Avantgardistin aufsteigt.

Ikonen, Volksbilderbogen, Ladenschilder, Jahrmarktware regen sie nachhaltig an. Allerdings werden ihre religiösen Bilder immer wieder wegen Gotteslästerung (!) beschlagnahmt. Ihr unorthodoxer Umgang mit archaischen Ursprüngen erinnert nicht von ungefähr an die Gruppe des Blauen Reiter, der in seinem legendären »Almanach« (1912) munter ägyptische Schattenspielfiguren, japanische Holzschnitte, bayrische Hinterglasbilder, Rousseau, Cézanne und Kandinskys erste Abstraktionen vermischt. Bezeichnenderweise ist darin auch eine Zeichnung der Gontscharowa abgedruckt, nämlich ihre »Weinlese« von 1911/12. Tatsächlich nahm die Malerin im Jahre 1912 auch an der in München gezeigten Ausstellung »Der Blaue Reiter« teil. Die Sehnsucht nach dem Ruralen treibt auch die Kunststudentin immer wieder von Moskau, wo die Tochter eines Architekten seit ihrem zehnten Lebensjahr wohnt, zu den Ländereien ihrer Vorfahren. Eine ihrer Ahninnen, die exakt ihren Namen trug, hatte 1831 Alexander Puschkin geheiratet.

Dunkel und einfach gekleidet zeigt sie die Bäuerinnen bei ihrem Tagwerk und festlich angetan an Feiertagen. Bilder wie »Fischfang« (1908) verraten in ihrer prononcierten Flächigkeit das Vorbild Gauguins ebenso wie die nervöse Strichelung der Baumrinden und des Laubwerks auf Van Gogh hindeuten. Nachdem sie sich 1901 am Moskauer Institut für Malerei, Bildhauerei und Architektur eingeschrieben hat, streift sie leidenschaftlich durch die renommierte Sammlung von Sergej Schtschukin, der sonntags sein Haus öffnet. Sie bewahrt vor dem Ersten Weltkrieg die größte Privatkollektion französischer Avantgarde in Russland, und die junge Künstlerin ist – wie auch Malewitsch und Wladimir Tatlin – fasziniert von Paul Cézanne, Pablo Picasso, Henri Matisse und Paul Gauguin.

Kunstkritiker und Impresario Sergej Djagilew stellt Natalja Gontscharowa 1906/07 in Paris, Berlin und Venedig in seiner russischen Kunstausstellung als Protagonistin der neuesten postimpressionistischen Kunstströmung vor. Ihre Produktivität ist immens: Allein 1907 entstehen 60 Gemälde, die in den kommenden Jahren auf diversen Ausstellungen in Moskau und St. Petersburg zu sehen sind. Furios sprengt ihr kraftvoller, schwarzer Frauenakt bereits 1911 den Rahmen – eine Antizipation von Josephine Baker.

Die Gontscharowa wird zur Erfinderin der avantgardistischen »Gesichtsmalerei«, zieht gemeinsam mit Larionow und Freunden mit schrillen Figur- und Tiersymbolen durch Moskaus Straßen. Die große Zäsur ihres Lebens beginnt, als sie 1915 Djagilews ungezählten Telegrammen nachgibt und Moskau endgültig verlässt. Das Entwerfen von Kostüm- und Bühnenbildern für die »Ballets Russes« wird nun zu ihrem beherrschenden Feld. Dem von ihr kreierten neuen russisch-orientalischer Stil gilt der Applaus des Pariser Publikums. Berühmte Stücke sind darunter wie Rimski-Korsakows »Le Coq d'or«, Strawinskys »Les Noces« oder Ravels »Rhapsodie espagnol«. Der »trockene Süden« Spaniens stimuliert sie entschieden, so dass ein Zyklus von »Spanierinnen« schließlich 1920 auf der Biennale in Venedig präsentiert wird.

Nach einer Odyssee durch ganz Europa von Norwegen, Frankreich, Spanien, Genf und Rom hat das Nomadentum von Gontscharowa und Larionow 1919 endlich ein Ende: Das Paar bezieht in der Rue de Seine im Szeneviertel Saint-Germain-des-Prés eine Drei-Zimmer-Wohnung, die bis zum Lebensende ihr Refugium sein wird. Ihr geräumiges Atelier in der Rue Visconti gewährt ihr endlich Platz für großformatige Arbeiten, die neben dem »Broterwerb« für die Bühnenkunst entstehen.

Die für russische Avantgardisten typischen antibürgerlichen Ressentiments teilt sie vollständig. So ist ihr Gemälde »Frühstück« (1924) Marina Zwetajewa zufolge »eine geniale Satire auf die bürgerliche Familie«. Ebenfalls ironisch wirkt ihr surreales Gemälde »Wäldchen«, in dem winzig kleine Figürchen mit Schirm, Melone und Krinoline unter riesenhaften Bäumen entlangflanieren. Heimatliche Reminiszenzen tauchen immer wieder auf. So wuchten in den 30er Jahren Waldarbeiter ihre Kiepen durch eine verschneite russische Landschaft. In ihrem »Künstlerischen Manifest«, das nun im Katalog erstmals vollständig aus dem Russischen übertragen wurde, weiß sie bereits 1913 prophetisch: »Mein Streben gen Osten ist nicht mein letzter Weg. (...) Für mich ist der Osten – das Schaffen neuer Formen – die Erweiterung und Vertiefung der Aufgaben der Farbe.« Ihr Einverwandeln fremder Stile prädestiniert sie als Wanderin zwischen den Welten, wie sie es in der von Zwetajewa verfassten Biografie resümiert: »Ich wollte nach Osten, ich geriet in den Westen.«

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