Nur eigene Interessen verfolgt

Der FC St. Pauli hat seine NS-Vergangenheit untersuchen lassen

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein halbes Jahr nach Machtantritt der Nazis ist das Darbieten des »Deutschen Grußes« bei Sportveranstaltungen vorgeschrieben, akustisch bekräftigt durch ein markig gebrülltes »Sieg Heil!«. Die Rugby-Mannschaft des FC St. Pauli, die hier ihre Gäste begrüßt, ist eine konvertierte Fußballmannschaft und Keimzelle der sportlich erfolgreichsten Abteilung des Klubs. Gegründet wird die Rugby-Abteilung 1933 von den Gebrüdern Otto und Paul Lang. Weil sie Juden sind, hatten sie ihren ursprünglichen Verein SV St. Georg verlassen müssen. Doch schon 1934 verlassen sie auch den FC St. Pauli unter ungeklärten Umständen.
Ein halbes Jahr nach Machtantritt der Nazis ist das Darbieten des »Deutschen Grußes« bei Sportveranstaltungen vorgeschrieben, akustisch bekräftigt durch ein markig gebrülltes »Sieg Heil!«. Die Rugby-Mannschaft des FC St. Pauli, die hier ihre Gäste begrüßt, ist eine konvertierte Fußballmannschaft und Keimzelle der sportlich erfolgreichsten Abteilung des Klubs. Gegründet wird die Rugby-Abteilung 1933 von den Gebrüdern Otto und Paul Lang. Weil sie Juden sind, hatten sie ihren ursprünglichen Verein SV St. Georg verlassen müssen. Doch schon 1934 verlassen sie auch den FC St. Pauli unter ungeklärten Umständen.

Der FC St. Pauli war kein Hort des Widerstands, seine Führung bestand aber auch nicht aus willfährigen Nazis – das ist die Quintessenz einer Studie, die der Historiker Gregor Backes im Auftrag des Bundesliga-Klubs vorgelegt hat.

»Er war kein reiner Nazi-Verein«, lautete das Urteil von Backes nach zwei Jahren umfassender Recherche in zahlreichen Archiven. »Der FC St. Pauli passte sich dem Regime erst nach einigem Zögern an, allerdings mehr aus Vereinsraison als aus ideologischen Gründen.« Dem Klub sei es von 1933 bis 1945 vor allem um eines gegangen: die Interessen des Vereins. Die Führungsmannschaft um den langjährigen Präsidenten Wilhelm Koch setzte die meisten Vorgaben kritiklos um. Sie muckte nur auf, wenn Vereinsinteressen unmittelbar berührt waren. Als Beispiel nennt Backes die Reichsnährstand-Ausstellung 1935, durch die der Rasen im Stadion »verwüstet« worden sei.

Die Recherchen wurden durch das Fehlen eines Vereinsarchivs stark beeinträchtigt. Die von Koch nach 1945 gelieferte Erklärung, die Unterlagen seien während der Bombenangriffe auf Hamburg vernichtet worden, bezeichnet Backes aber als »glaubwürdig«. Das Problem: Weil alle Mitgliederlisten dem Feuersturm zum Opfer fielen, konnte der Historiker nicht das Schicksal der jüdischen Mitglieder des Kiezklubs erforschen. Nur soviel: Zwar habe der Stadtteilverein noch im Frühjahr 1933, als andere Vereine ihre jüdischen Mitglieder bereits ausschlossen, die Brüder Otto und Paul Lang aufgenommen. Beide waren jüdischer Herkunft und gründeten die erfolgreiche Rugby-Abteilung. Heute erinnert eine Gedenktafel im Stadioneingang an die Brüder. Im Faschismus sei der Verein aber »kein Hort des Widerstands« gewesen, betont der 43-jährige Historiker: »Tatsächlich hat sich der Klub angepasst, mit dem Regime und den politischen Rahmenbedingungen arrangiert.«

Der FC St. Pauli habe sich vor und nach 1945 unauffällig verhalten, erklärte der Historiker: »Man kann fast sagen: unpolitisch.« Das mag heute mit Blick auf das Image, mit dem die »Freibeuter der Liga« behaftet sind, erstaunen. Doch Backes nennt als Beispiel den Umgang mit der Person Otto Wolff. Der war in der Hansestadt verantwortlich für die Ausschaltung von Juden aus der Wirtschaft und die Liquidierung jüdischen Eigentums, an dem er sich zudem persönlich bereicherte. 1945 ernannte Hitlers Architekt Albert Speer ihn zum Rüstungsbeauftragten für Norddeutschland. Wolff wurde nach Kriegsende drei Jahre interniert und wegen seiner SS-Mitgliedschaft und Beteiligung an der »Arisierung« rechtskräftig verurteilt. Gleichwohl habe der FC St. Pauli ihn wieder mit offenen Armen empfangen, kritisiert Backes: »1950 wurde er für die Wahl zum Vizepräsidenten vorgeschlagen, 1971 Mitglied auf Lebenszeit.« Die 1960 verliehene Goldene Ehrennadel durfte Wolff bis zu seinem Tod 1991 behalten, posthum aberkannt wurde sie nicht. Im Gegenteil: Die Vereinszeitung würdigte Wolff im Nachruf ausdrücklich wegen dessen Verdienste »vor und während dem Zweiten Weltkrieg«.

Heute ist der Kiezklub den Werten Toleranz, Solidarität, Weltoffenheit und dem Antifaschismus verpflichtet. »Der intensive Blick in die NS-Zeit ist uns deshalb besonders wichtig, da er verdeutlicht, dass unsere heutigen Werte nicht selbstverständlich sind«, erklärt St. Paulis Vize-Präsident Bernd-Georg Spies. Vor diesem Hintergrund habe der Verein auch keinen Einfluss auf den Autor genommen, beteuert Spies: »Die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Studie ist uns wichtig.«

Seit Ende der 1980er-Jahre stellt sich der Verein offensiv seiner braunen Vergangenheit. Als 1997 herauskam, dass der Ex-Präsident NSDAP-Mitglied war, wurde das Wilhelm-Koch-Stadion in Millerntor umbenannt. Seit 2004 gibt es eine Tafel im Stadion: »Zum Gedenken an die Mitglieder und Fans des FC St. Pauli, die während der Jahre 1933 bis 1945 durch die Nazi-Diktatur verfolgt oder ermordet wurden.« Seit 1989 rufen Fans die Parole »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder dritte Liga!« Der FC St. Pauli organisierte Freundschaftsspiele mit türkischen Mannschaften, untersagte rechte und ausländerfeindliche Propaganda. Paragraf 6 der Stadionordnung bestimmt: »Verboten ist den Besuchern: Parolen zu rufen, die nach Art oder Inhalt geeignet sind, Dritte auf Grund ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung zu diffamieren.«

Gregor Backes: »Mit deutschen Sportgruß, Heil Hitler!« Der FC St. Pauli im Nationalsozialismus, Hoffmann und Campe

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